Voller Durchblick
Transparenz wird für Lieferketten immer mehr zum Muss. Das fängt schon beim Bestandsmanagement an. Die Digitalisierung ermöglicht Lösungen für eine Fülle neuer Anwendungen – etwa die Überwachung von mobilen, dezentralen Tanks oder Silos. Das sorgt für mehr Effizienz und führt sogar zu neuen Geschäftsmodellen.
Die Sonne strahlt, am Himmel ziehen ein paar Schäfchenwolken, das 25 Grad warme Wasser glitzert hellblau im Rutschbecken des Vestbadet in Viborg. In dem dänischen Städtchen können an diesem perfekten Sommertag gleich drei Kinder auf einmal die Parallelrutsche im Freibad hinuntersausen. Kenneth Laursen würde sich am liebsten mit in die Fluten stürzen. Dafür wünscht er sich außer einer angenehmen Temperatur einen pH-Wert zwischen 7,0 und 7,6 und mindestens ein Milligramm freies Chlor pro Liter Wasser.
1 Für sauberes Badewasser braucht es Nachhilfe aus der Chemie.
3 Farbindikatoren zeigen an, ob das Wasser den optimalen pH-Wert hat und ausreichend freies Chlor vorhanden ist.
2 Kenneth Laursen freut sich, dass er dank Micropilot FWR30 seinen Kunden bestmöglichen Service bieten kann.
HYGIENISCHER BADESPASS
Kenneth Laursen kennt sich aus mit Schwimmbadwasser. Mit seinem Unternehmen Cabola ApS beliefert er fast 300 Schwimmbäder in ganz Dänemark mit Chemikalien, die für den Badebetrieb mit jeweils vielen hundert Gästen nötig sind. Hauptsächlich Natriumhypochlorit-Lösung und Schwefelsäure, außerdem Salzsäure und Reinigungsmittel. Das Natriumhypochlorit zerfällt im Wasser zu Hydroxid-Ionen und freiem Chlor. Letzteres verhindert zum einen, dass Algen wachsen. Zum anderen oxidiert es Hautschüppchen, Schweiß und Sonnenmilch, die das Wasser von der Haut der Badegäste spült. Dabei entstehen Chloramine, die für den typischen Schwimmbadgeruch verantwortlich sind.
„Es macht einen großen Unterschied für den Chlorverbrauch, ob Badegäste sich abduschen, bevor sie ins Wasser gehen“, sagt Kenneth Laursen. Temperatur, Sonneneinstrahlung, Anzahl der Gäste, die Duschdisziplin – wie viel Hypochlorit-Lösung nachdosiert werden muss, hängt von vielen Faktoren ab. Zwischen 10 und 20 Milliliter pro Kubikmeter Wasser sind es pro Tag. Dementsprechend variabel sind die Lieferintervalle, in denen Cabola die Kunden versorgt. „Wenn früher das Vestbadet in Viborg bestellt hat, haben wir unsere anderen Kunden im Umkreis angerufen und gefragt, ob sie auch Bedarf haben. Trotzdem waren unsere LKW oft nicht optimal ausgelastet. Das wollte ich ändern“, erzählt er.
In einem ersten Versuch stattet Kenneth Laursen die Lagertanks seiner Kunden mit Füllstandsmessgeräten mit Fernabfrage aus. Aber das System ist teuer und die Tauchsonden halten den korrosiven Chemikalien nicht stand. Die Lösung all seiner Probleme findet er schließlich bei Endress+Hauser: Auf einem Dashboard sehen die Mitarbeitenden von Cabola jetzt rund um die Uhr, wie viele Chemikalien die 300 Kunden im Land noch auf Lager haben und wie sich ihr Verbrauch entwickelt – und können so die Belieferung entsprechend steuern.
„Eine gute Beziehung zu meinen Kunden ist mir auf lange Sicht wichtiger als kurzfristiger Umsatz.“
Kenneth Laursen,
Geschäftsführer der Cabola ApS
1 Micropilot FWR30 ist batteriebetrieben, kompakt und in wenigen Minuten betriebsbereit.
3 Der Sensor ist auf dem Tank angebracht und misst den Füllstand berührungslos durch die Kunststoffwand hindurch.
2 Fast zehn Prozent weniger Treibstoff verbrauchen die LKW von Cabola dank optimierter Routenplanung.
4 Intermediate Bulk Container (IBC) sind in der Industrie beliebt, um Flüssigkeiten effizient zu transportieren und zu lagern.
WERTVOLLE EINBLICKE
„Das Beispiel Cabola zeigt, wie sich Logistik- und Lagerprozesse durch Transparenz optimieren lassen“, erklärt Christian Reichert, Director Engineered Solutions bei Endress+Hauser. Im großen Maßstab werden diese Möglichkeiten seit Jahrzehnten genutzt: „In der Prozessindustrie hat das Bestandsmanagement beim Lagern, Umfüllen und Verteilen von Stoffen einen großen Einfluss auf den finanziellen Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen“, sagt Christian Reichert. Hohe Bestände steigern die Lieferfähigkeit, binden jedoch viel Kapital; niedrige Bestände senken die Kosten, gehen aber zu Lasten der Lieferfähigkeit. „Mit Lösungen für das Bestandsmanagement versuchen Unternehmen, die richtige Balance zu finden. Sie wollen ihre Abläufe effizient steuern und ihre Produktivität steigern“, sagt der Wirtschaftsingenieur.
Lange ausgenommen von solchen Lösungen waren jedoch Anwendungen wie jene bei Cabola, etwa mit sogenannten IBCs, stapelbaren Kunststoffcontainern mit 300 bis 3.000 Litern Füllvolumen. Sie werden in vielen Bereichen für den Transport und die Lagerung von Flüssigkeiten eingesetzt, befinden sich oft an wechselnden oder entlegenen Standorten. „Klassische, kabelgebundene Messsysteme sind für kleine Installationen oder Anwendungen, die keine hohen Sicherheitsanforderungen stellen, in der Regel zu aufwendig und zu teuer. Dadurch haben sich solche Prozesse bisher nicht wirtschaftlich automatisieren lassen“, sagt Christian Reichert. Wer Bestände in kleineren, mobilen Behältern ermitteln wollte, war auf Sichtprüfungen, Stichproben oder Schätzungen angewiesen.
Doch die Miniaturisierung der Elektronik und die Cloudtechnologie haben den Weg für neue Entwicklungen geebnet: 2019 kommt Micropilot FWR30 von Endress+Hauser auf den Markt. Das kompakte Gerät wird einfach außen auf den Tank montiert und sendet Radarwellen durch die Kunststoffwand. Mit der Laufzeit des Signals lässt sich der Füllstand berührungslos ermitteln. Seine Energie bezieht der Radarsensor aus einer eingebauten Lithiumbatterie, die je nach Messintervall bis zu 15 Jahre hält. Die Messwerte werden nicht per Gateway, sondern via Mobilfunk mit einer eingebauten SIM-Karte in die Endress+Hauser Netilion Cloud übertragen. Digitale Dienste visualisieren dann die Daten – so lassen sich die Bestände von jedem Endgerät aus überwachen.
1 Damit die Arbeit vorangehen kann, muss auf Baustellen stets genügend Betonverflüssiger vorrätig sein.
2 SupplyCare gibt Kunden jederzeit und überall Einblick in die Lagerbestände.
DATEN AUS DEM OUTBACK
Das alles funktioniert selbst im Hinterland von Australien. Auf dem dünn besiedelten Kontinent betreut Volker Schulz, International Business Development Manager bei Endress+Hauser, unter anderem ein Unternehmen, das Baustellen mit selbst produzierten Betonadditiven beliefert. „Wenn der Betonverflüssiger ausgeht, steht die Baustelle so lange still, bis der Nachschub aus tausend Kilometer Entfernung herangeschafft ist“, erklärt Volker Schulz die logistischen Herausforderungen. Sicher-ist-sicher-Bestellungen, die zu früh ausgelöst werden, sind gleichermaßen problematisch. Jede LKW-Fahrt ins Outback für eine halbe Tankfüllung Chemikalien statt einer ganzen belastet die Gewinn-und-Verlust-Rechnung ebenso wie die Nachhaltigkeitsbilanz.
Mittlerweile hat das Unternehmen mehrere hundert FWR30 in verschiedenen Ländern in Betrieb und nutzt die cloudbasierte Bestandsführungsplattform SupplyCare von Endress+Hauser als digitale Dienstleistung. Auf einer Kartendarstellung kann der Kunde jederzeit Informationen über jeden einzelnen Tank abrufen. Nicht nur den Füllstand, sondern auch, ob das Produkt bei passender Temperatur entnommen und verarbeitet wurde – ein wichtiger Wert, wenn das Thermometer bis auf 50 °C steigen kann. Aus der Entwicklung der Bestände wird eine Prognose für die nächsten Tage berechnet. „Sinkt der Füllstand unter einen vorher festgelegten Wert, löst das Alarm aus – oder wahlweise gleich automatisch eine Lieferung“, erklärt Schulz. Es gibt jetzt kein Risiko mehr für leerlaufende Behälter oder stockende Abläufe.
„Mit Micropilot FWR30 bringen wir Transparenz in viele neue Anwendungen und ermöglichen so bessere Entscheidungen.“
Volker Schulz,
International Business Development Manager für Bestandsmanagementlösungen bei Endress+Hauser
PANDEMIE ALS KATALYSATOR
„Durch die Lieferprobleme während der Pandemie und mit den wachsenden Anforderungen an die Nachhaltigkeit sind Unternehmen noch einmal sensibler geworden. Kunden wollen auch kleinere Lieferketten überwachen oder Lieferketten in ihrer Gesamtheit. Vor allem bei Baustoffen sehen wir hier einen starken Bedarf“, erklärt Christian Reichert. In engem Austausch mit Anwendern hat Endress+Hauser deshalb Micropilot FWR30 weiterentwickelt: Da Radarstrahlen Metallwände nicht durchdringen können, ist ein neuer Prozessanschluss für Metalltanks und Metallsilos hinzugekommen, ebenso die Messung von Schüttgütern zusätzlich zu Flüssigkeiten sowie die geografische Ortung.
Als Kunde beteiligt an der Entwicklung all dieser Innovationen war die Profibaustoffe Austria GmbH. Das Unternehmen verarbeitet Kalkstein aus dem firmeneigenen Steinbruch zu Baustoffsystemen für Wand, Boden, Fassaden, Gartenbau und Straßenbau. Im niederösterreichischen Ernstbrunn mischen die Spezialisten Zement, Mörtel und Putz für Baustellen in Österreich und Osteuropa. Transportiert wird das Material in zylindrischen Stahlsilos, die bei Bedarf ausgetauscht oder nachgefüllt werden. Schon die leeren Silos haben einen erheblichen Materialwert, so dass allein die Information wertvoll ist, wo sich ein Behälter befindet. Die GPS-Funktion des Micropilot FWR30 gibt die Antwort. Und hilft natürlich auch bei der Routenplanung.
15Jahre
hält die Batterie des Füllstandssensors Micropilot FWR30, je nach Messintervall.
VON FLÜSSIG ZU FEST
Doch um den cloudbasierten Sensor überhaupt nutzen zu können, musste er erst einmal für die Baustoffe ertüchtigt werden. Die Radarmesstechnik eignet sich besonders gut für die Füllstandsmessung von Flüssigkeiten. Schüttgüter wie die Baustoffmischungen reflektieren das Signal schwächer. Im Silo kann sich außerdem ein Trichter bilden, wenn Material entnommen wird, oder ein Kegel beim Nachfüllen. Mit Messwerten aus praktischen Versuchen hat das Team von Endress+Hauser deshalb das Signal linearisiert und den Sensor für die Messung von Feststoffen optimiert. Die spezifischen Umrechnungsfaktoren sind in der Software hinterlegt, die aus den Füllstandswerten automatisch berechnet, wie viele Tonnen Mörtel- oder Putzmischung vorrätig sind.
Christian Kreitzer, Versandleiter und stellvertretender Vertriebsleiter Profibaustoffe Austria GmbH, ist begeistert: „Mit Endress+Hauser haben wir die optimale Lösung zur Silo-Füllstandskontrolle gemeinsam entwickelt und umgesetzt. Die Zusammenarbeit hat bestens funktioniert und wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden.“ Dank der webbasierten Bestandsführungssoftware hat der Baustoffhändler stets volle Transparenz über alle Schritte der Lieferkette – von der Herstellung über die Verteilung bis zur Lagerung auf der Baustelle. Das ermöglicht, die Lieferrouten zu optimieren, damit Betriebskosten zu senken und den CO2-Fußabdruck zu verkleinern. Außerdem schätzt man bei Profibaustoffe Austria eine weitere Funktion des FWR30: Der Sensor dokumentiert auch Änderungen des Lagewinkels. Wird ein Silo, das waagerecht auf dem LKW transportiert wurde, in die Senkrechte gekippt, ist der Zeitpunkt der Anlieferung eindeutig bestimmt und damit die Liefertreue des Unternehmens dokumentiert.
1 Die Messwerte werden per Mobilfunk in die Cloud übertragen und sind auch mobil jederzeit abrufbar.
2 Auf Metallsilos wird der Sensor mit einem Prozessanschluss angebracht.
GESCHÄFTSBEZIEHUNG GESTÄRKT
Der Produzent und Lieferant von Betonadditiven in Australien hat sich mit Hilfe des Micropilot FWR30 und SupplyCare sogar ein neues Geschäftsmodell erschlossen: Er verwaltet jetzt die Bestände seiner Kunden und garantiert ihnen, dass stets genügend Betonverflüssiger im Vorratstank ist. Und in Dänemark? Dort hat Kenneth Laursen das Ziel erreicht, seine Lastwagen besser auszulasten, und den Treibstoffverbrauch um fast zehn Prozent gesenkt. Auch er nutzt die Möglichkeiten der neuen Technologie, um noch näher an seine Kunden zu rücken: „Wenn ein Freibadbetreiber im Spätsommer Nachschub bestellen will, rate ich ihm schon mal von einer Lieferung ab, wenn sich aus dem bisherigen Verbrauch abschätzen lässt, dass der Bestand bis Saisonende reichen wird“, erklärt Laursen. „Meine Kunden wissen das zu schätzen. Eine gute Beziehung zu ihnen ist mir auf lange Sicht wichtiger als kurzfristiger Umsatz.“
15Meter
maximale Messdistanz kann der Sensor leisten.
Veröffentlicht am 03.12.2024, zuletzt aktualisiert am 09.12.2024.
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