Versuch macht klug

KI kann zum Schlüssel werden, um die Möglichkeiten der Digitalisierung wirklich auszuschöpfen. Endress+Hauser erkundet gemeinsam mit Kunden und Partnern Schritt für Schritt die neue Technologie – und macht so ihre wahren Mehrwerte deutlich.

Fragen: Christine Böhringer
Fotografie: Andreas Mader
Marco Colucci

„KI ist kein Schnellschuss“

Künstliche Intelligenz wird seit Jahren kommerziell genutzt. Nun soll sie auch in den Anlagen der verfahrenstechnischen Industrie für einen Effizienzschub sorgen. Wo genau die Potenziale der neuen Technologie liegen und wie Endress+Hauser die Kunden fit dafür macht, erklärt Digitalstratege Marco Colucci.

INNOVATION

Um Künstliche Intelligenz gibt es derzeit einen Hype. Manchen gilt sie gar als Allheilmittel, um sämtliche Probleme in Prozessen zu lösen. Wie sehen Sie bei Endress+Hauser die Technologie?

Für mich ist Künstliche Intelligenz in erster Linie ein neuer Erkenntnis Treiber: Vor dem Hintergrund der Digitalisierung kann sie uns in Kombination mit Daten aus unseren intelligenten Sensoren helfen, neues wertvolles Wissen aus verfahrenstechnischen Anlagen zu gewinnen. Anwender können dann auf Grundlage dieser Einblicke bessere Entscheidungen treffen und sich so neue Möglichkeiten der Optimierung erschließen. Unsere Kunden aus Branchen wie Chemie, Lebensmittel oder Life Sciences, die schon zu einem fortgeschrittenen Grad automatisiert sind, räumen intelligenten Lösungen das Potenzial ein, die Effizienz noch einmal um durchschnittlich fünf Prozent zu steigern – aber nur in bestimmen Bereichen. KI kann also einiges. Ein Allheilmittel ist sie jedoch keineswegs.

 

Bei welchen Anwendungen könnte KI den größten Mehrwert liefern?

Nachdem wir über Jahre viele Anwendungsfälle mit Kunden erarbeitet haben, liegt für mich der größte Nutzen in Bereichen, in denen KI die Grenzen der physikalischen Messtechnik erweitern kann. Also bei Themen wie Predictive Quality, Predictive Reliability und beim Digitalen Zwilling. Letzterer könnte sich mit KI selbstständig an veränderte Systembedingungen anpassen. Bei Predictive Reliability geht es um Zuverlässigkeitsaussagen zur Messperformance unserer Geräte, aber auch um die Kalibrierintervalloptimierung. Derzeit werden mit statistischen Modellen historische Kalibrierdaten analysiert; künftig könnte ein Algorithmus auch Monitoringdaten aus unseren Geräten mit Heartbeat Technology einbeziehen. Hinter Predictive Quality stecken Softsensoren. Mit ihnen lassen sich Parameter bestimmen, die sich heute nicht mit der physikalischen Sensorik oder nur im Labor oder nur mit menschlichen Sinnen erfassen lassen. Dafür kombinieren wir Hardwaresensoren mit einem KI Modell und stellen diese neuen Parameter inline zur Verfügung. Softsensoren schließen also Informationslücken, die bislang in Prozessen bestehen. Für mich sind sie deshalb ein sehr großes Zukunftsfeld!

ZUKUNFTSDENKER

Marco Colucci (53) arbeitet seit 30 Jahren bei Endress+Hauser und verantwortet im Product Center für Durchflussmesstechnik die Bereiche Digitalstrategie und Portfoliomanagement. Derzeit arbeitet der studierte Elektro- und Informationstechniker an seinem Doktorat. Schwerpunkt: Wie Unternehmen durch den Ansatz der dualen Innovation ihr etabliertes Kerngeschäft transformieren und vorantreiben können.

Marco Colucci

Was ist mit dem Thema Predictive Maintenance? Die vorausschauende Wartung gilt vielen als Paradebeispiel unter den KI-Anwendungen …

Vorausschauende Wartung mit KI ist für die Prozessindustrie natürlich ein wichtiger Punkt: Die Verfügbarkeit von Anlagen soll erhöht werden, indem drohende Komponentenausfälle rechtzeitig erkannt und Wartungseinsätze gezielt geplant werden können. Allerdings stehen für Anlagenbetreiber hier nicht unbedingt unsere Geräte im Fokus, sondern vielmehr verschleißintensive mechanische und rotierende Komponenten wie Pumpen und Ventile. Es wäre denkbar, dass wir mit unseren Sensordaten die vorausschauende Wartung dieser Assets unterstützen können. Zudem sind wir gerade dabei, mit einer KI Lösungen für unsere Geräte in sehr anspruchsvollen Anwendungen zu erarbeiten, die mit Belagsbildung, Abrasion und Korrosion einhergehen.

 

Bei Endress+Hauser und in der Prozessindustrie generell ist der Einsatz von KI noch kaum über Pilotprojekte hinausgekommen. Weshalb ist der Übergang in die Breite schwierig?

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen sind Industrie und Hersteller noch in einer Phase der Exploration. So gibt es bei vielen Versuchen dann doch nicht den erhofften Effizienzgewinn – oder eine Skalierung der Lösung ist nicht möglich. Zum anderen lassen sich die Use Cases nicht von heute auf morgen entwickeln, denn dafür braucht es vor allem Co Innovation: Wir müssen tief ins Applikationswissen der Kunden hineingehen, die richtigen Daten haben, sie in die Cloud bringen und gemeinsam mit ihnen interpretieren. Da spielen auch Aspekte wie Datenzugang, Interoperabilität, Cybersicherheit, das richtige Mindset im Unternehmen und vieles mehr eine Rolle. KI ist kein Schnellschuss. Und es ist auch kein Thema, das einzelne allein vorantreiben können.

 

Damit KI zum Erfolg wird, muss also erst noch der Weg geebnet werden?

Gerade bei der Planung neuer Anlagen ist es essenziell, das Thema Digitalisierung und KI gleich mitzudenken. Wir sind aktuell bei vielen Wasser und Abwasserprojekten dabei, in denen die Messtechnik entsprechend ausgewählt und die nötige IT und OTInfrastruktur im Anlagendesign bereitgestellt wird. Korrekte und strukturierte Daten als erster Schritt sowie deren Management und Visualisierung als zweiter Schritt machen die Analyse durch Algorithmen im dritten Schritt erst möglich.