Rohstoff der Zukunft
Sie eignen sich als Medizin, Superfood und Biotreibstoff. Sie könnten zur Welternährung beitragen und sind obendrein gut fürs Klima: Was Algen zum Stoff des 21. Jahrhunderts macht – und wie die Firma Phyox ihre Zucht auf eine neue Ebene hebt.
Die Luft in der 600-Quadratmeter-Halle ist angenehm frisch. Rötliches Licht leuchtet aus elf Produktionslinien aus Stahl und Glas, in denen Mikroalgen unter LED-Bestrahlung gedeihen. Borna Semenjuk taucht einen pH-Sensor in einen 30-Liter-Glaszylinder mit dem Algenansatz, der vor einer der großen Zuchtlinien steht. Tiefes Grün schimmert durchs Glas. Der Produktionstechniker deutet auf eine feine Linie Einzeller, die sich an der Glaswand abgesetzt haben. „Die Algen rücken zusammen, weil ihnen Kohlenstoff fehlt“, sagt der 26-Jährige und schaut aufs Display: 6,6 – der Wert ist in der Tat etwas niedrig. Nach dem Druck auf einen Knopf an der Wand sprudeln feine CO2-Bläschen durch den Zylinder.
Früher, während seiner Ausbildung, hat der Lebensmitteltechniker gelernt, wie er Algen „beseitigen“ kann. Jetzt unternimmt er alles, damit sie gedeihen. Nährstoffe, Wärme, Licht und CO2, das Ganze im richtigen Mix, dann geht es der Alge gut. Binnen Tagen werden sich die Chlorella hier im Glaszylinder so oft geteilt haben, dass sie, nach Zwischenstationen in zwei weiteren Tanks, in eine der elf 10.000-Liter-Anlagen versetzt werden können.
Borna Semenjuk arbeitet für Phyox in Novska, Kroatien, gut eine Autostunde von Zagreb entfernt. Seit Ende 2022 stellt das Unternehmen hier Trockenpulver aus Chlorella-Algen für die Pharma-, Kosmetik- und Lebensmittelindustrie her. Dabei steht Phyox mit einem Bein im Kundengeschäft, mit dem anderen in der Entwicklung. Die Firma will ideale Bedingungen für die industrielle Produktion von Algen schaffen und wird ihre Kapazität in naher Zukunft verzwanzigfachen. Phyox wäre dann einer der weltweit größten, wenn nicht der größte Hersteller von hochreinem Mikroalgenpulver.
Mikroalgen wie die Chlorella können in der Ernährung, zur Körperpflege oder als Rohstoff eingesetzt werden.
Gedeihen die Algen, dann binden sie Kohlendioxid und setzen Sauerstoff frei.
Die vielseitigen Mikroorganismen benötigen Nährstoffe, Wärme, Licht und CO2 zum Wachstum.
NACHHALTIGE ALLESKÖNNER
Mikroalgen sind wegen ihrer Inhaltsstoffe schon heute für viele Industrien interessant: als Superfood oder Kosmetikprodukt, als Bindemittel, Farbstoff oder Stabilisator. Sie stecken in Gummibärchen, Eis und Zahnpasta. Pharmahersteller nutzen ihre blutverdünnenden Eigenschaften. Die Chemieindustrie erzeugt daraus umweltfreundliche Farbe oder Dünger.
In Zukunft könnte die Rolle von Algen noch viel größer werden: Sie haben die höchste Dichte an Nährstoffen im Pflanzenreich, vermehren sich rasant und verbrauchen gleichzeitig wenig Fläche. Mit ihren Proteinen, Vitaminen und ungesättigten Fettsäuren könnten sie beitragen, die Ernährungsfrage für mehr als acht Milliarden Menschen zu lösen. Die Kunststoffindustrie könnte aus Algen massenhaft grünes Plastik herstellen, die Textilindustrie nachhaltiges Gewebe, die Baustoffindustrie Bioasphalt und weitere ressourcenschonende Stoffe. Auch die medizinische Forschung ist aktiv: Algen zeigten Wirkung gegen gefährliche Bakterien, Viren oder Krebszellen und helfen womöglich gegen eine ganze Reihe von Erkrankungen. Die Luftfahrt wiederum tüftelt an Biokerosin: Die großen Makroalgen mit ihrem hohen Ölgehalt eignen sich für verschiedenste Biotreibstoffe; es ist nur eine Frage der Kosten und der Skalierung.
Phyox-CEO Bernd Herrmann klappt in seinem Büro den Laptop auf. Vor drei Jahren hat er das Unternehmen mit deutschen und kroatischen Partnern gegründet. Ein gleichermaßen visionärer wie bodenverhafteter Mann, der aus dem Industrieanlagenbau kommt und einst Garnelen züchten wollte. „Bioshrimps für den Großhandel“, erinnert er sich und lacht, „deshalb habe ich mich mit Mikroalgen als Futter beschäftigt.“ Rasch erkannte er, dass die grünen Einzeller noch viel interessanter sind als Garnelen. „Algen enthalten mehr Omega-3 und -6 als Fisch, mehr Kalzium als Milch, jede Menge Proteine, dazu Vitamine, Spurenelemente und Chlorophyll.“ Und als wäre das noch nicht genug: Als photoautotrophe Organismen, die Licht in chemische Energie umwandeln können, verbrauchen Algen Kohlendioxid. Ihr „Abfallprodukt“ ist Sauerstoff. „Unsere 600-Quadratmeter-Produktion setzt so viel Sauerstoff frei wie 40 Hektar Wald“, sagt Bernd Herrmann. Das erklärt, warum die Luft in der Produktionshalle so gut ist. Und es ruft Investoren auf den Plan, die nach Möglichkeiten zur CO2-Kompensation suchen.
Phyox produziert Algen in geschlossenen Bioreaktoren, unabhängig von äußeren Einflüssen.
Lichtstärke und Pulsung der LED-Leuchten sind ganz auf die Bedürfnisse der Algen abgestimmt.
Die Chlorella-Algen werden unter kontrollierten Bedingungen drei- bis fünfmal so groß wie in natürlicher Umgebung.
Messtechnik überwacht die Abläufe und Zustände in der hochautomatisierten Anlage in Kroatien.
„Die visionären Ideen von Phyox haben mich von Anfang an fasziniert.“
Christian Fischer
technischer Verkaufsmanager, Endress+Hauser Deutschland
„Unsere 600-Quadratmeter-Produktion setzt jährlich so viel Sauerstoff frei wie 40 Hektar Wald.“
Bernd Herrmann
CEO Phyox
SELBST ENTWICKELTE BIOREAKTOREN
Wo andere Hersteller Algen unter freiem Himmel in offenen Becken oder geschlossenen Glasröhren züchten, hat Phyox die Produktion nach innen verlegt. In selbst entwickelten Bioreaktoren mäandert das Algenwasser an LED-Lichterbalken vorbei. Lichtstärke und Pulsung der LEDs sind genau auf die Bedürfnisse der hier gezüchteten Chlorella-Algen abgestimmt. Feine Düsen am Boden pumpen ein Sauerstoff-Kohlendioxid-Gemisch in die Behältnisse und sorgen dafür, dass Wärme wie Nährstoffe gleichmäßig verwirbeln und sich das Wassergemisch weiterbewegt. Am Ende der Linie wird die Algenflüssigkeit wieder an den Anfang gepumpt, bis ein Trübungssensor erkennt, dass es Zeit für die Ernte ist. Dann trennt ein Separator die Algen vom Wasser und das Permeat – das abgefilterte Wasser – fließt in die Linie zurück, wo es erneut manuell besiedelt wird.
„Die visionären Ideen von Phyox haben mich von Anfang an fasziniert“, sagt Christian Fischer von Endress+Hauser Deutschland. „Diese Produktion ist weder von der Sonne noch von den Jahreszeiten abhängig, auch drohen keine Verunreinigungen wie bei offenen Becken“, so der technische Verkaufsmanager, der das Projekt seit Beginn begleitet. Stattdessen könne Phyox rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr hochkontrolliert produzieren. Neben der Prozessmesstechnik hat Endress+Hauser auch die Automatisierungslösung samt Fernzugriff geliefert.
Bernd Herrmann, CEO Phyox
Die Automatisierung der Anlage sichert eine gleichbleibende Qualität und die höchstmögliche Ausbeute.
„Steuerung und Sensorik sind das A und O“, weiß Bernd Herrmann. Mit Endress+Hauser hat er einen Partner gefunden, der seine Ideen nicht nur umsetzt, sondern sich auch auf die komplexe Materie einlässt: „Die Alge ist ein hochsensitives Lebewesen, man muss sie genau verstehen.“ Strömung, Wasserwerte, Lichtintensität und -farbe, jede noch so kleine Verschiebung von Werten hat Folgen. Deshalb wird das Wasser ständig auf Fließgeschwindigkeit und Füllstand, Trübung, pH-Wert und Leitfähigkeit überwacht. Je nach Messergebnis wird automatisch Dünger dosiert oder Wasser nachgespeist. Memosens-Technologie ermöglicht, in der Produktion wie auch im Labor die gleiche Analysetechnik einzusetzen.
Die Automatisierung wiederum sichert die hohe Qualität der Produktion: „Wenn sich nachts um drei ein Bakterium im Algenwasser ausbreitet, dann müssen wir sofort reagieren“, unterstreicht Bernd Herrmann. Die Phyox-Anlage schaltet in solchen Fällen automatisch auf Ultrafiltration. Wenn es sein muss, leitet sie das Abernten der Anlage ein.
2t
verbraucht die Herstellung von 1 t Algenmasse.
Rund 20 Kilogramm Algen-Trockenpulver ergibt die Ernte einer Produktionslinie.
Phyox kann auf Kundenwunsch Algen mit ganz bestimmten Eigenschaften herstellen.
Die Arbeit im Labor liefert neue Erkenntnisse zur Zucht von Algen in großem Maßstab.
Mit dem Ausbau der Anlage soll in Novska ein Campus für die Algenforschung entstehen.
ALGENEXTRAKTE NACH WUNSCH
Im Ergebnis erreicht Phyox nicht nur ein hochreines Produkt und höchstmögliche Erträge. „Wir können auch Mikroalgen mit ganz bestimmten Eigenschaften für spezifische Kundenanforderungen züchten.“ Denn längst geht es nicht mehr nur um die Alge als Gesamtprodukt, sondern einzelne Extrakte wie Carotin oder Lutein. Da kann schon ein Gramm mehr Phosphat im Dünger den Unterschied machen. „Jeder Messwert ist ein eigenes Forschungsfeld“, sagt Bernd Herrmann, der die Anlage im nächsten Schritt zum vollautomatisierten und durchdigitalisierten „Werk 5.0“ für bis zu 15 verschiedene Mikroalgenarten weiterentwickeln will. Künstliche Intelligenz soll dann helfen, die optimalen Zuchtbedingungen zu sichern.
Denn Algen sind nicht nur empfindlich, sie sind auch höchst divers: Wo beispielsweise Chlorella kräftig aufgewirbelt werden müssen, weil sie sonst an der Glaswand kleben, schwebt eine Dunaliella einfach so durchs Wasser. Die eine Algenart braucht viel Licht, die andere wenig. „Für die kommerzielle Produktion liefert die akademische Forschung bislang kaum verwertbare Ergebnisse, denn sie bezieht sich meist auf kleine Mengen“, bedauert Bernd Herrmann. Mit der geplanten Vergrößerung will Phyox deshalb einen Campus für die Algenforschung schaffen. Das Ziel: nichts weniger als die größte Algenzuchtanlage der Welt mit wissenschaftlich fundierter, hochautomatisierter Produktion.
Dass dies ein realistisches Szenario ist, zeigt das Interesse von Investoren, Industrie- und Forschungspartnern weltweit. Und auch die Chlorella-Algen von Phyox selbst: Wo die Einzeller in natürlicher Umgebung etwa fünf bis acht Mikrometer Durchmesser erreichen, werden sie bei Phyox drei- bis fünfmal so groß. „Ohne Verlust von Inhaltsstoffen“, betont Bernd Herrmann und strahlt: „Dabei haben wir die Alge erst zu einem Bruchteil verstanden.“
Veröffentlicht am 29.11.2023, zuletzt aktualisiert am 25.01.2024.
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