Neue Wege

Was passiert, wenn Messtechnik-Experten fernab vom Tagesgeschäft viel kreativen Freiraum bekommen? Sie entwickeln innovative Produkte für neue Märkte – zum Beispiel ein Hochwasser-Frühwarnsystem.

Text: Christine Böhringer
Grafik: Teresa Bungert
Flood Warning System

Produktentwicklung

Der Sommer 2021 war in Europa katastrophal: Dauer- und Starkregen sorgte für Sturzfluten und Überschwemmungen, die mehr als 200 Todesopfer forderten und Milliardenschäden verursachten. „Gerade kleinere und mittlere Gewässer werden bei solchen Wetterlagen schnell von Rinnsalen zu reißenden Strömen“, erklärt Florian Falger, Business Model and Market Manager bei Endress+Hauser. Doch mangels Personal werden diese oft nicht oder kaum überwacht. Jetzt gibt es aber für diese Aufgabe einen aufmerksamen Wächter: ein Hochwasser-Frühwarnsystem, das ohne Aufwand im Hintergrund arbeitet und Gefahren vorhersagen kann.

Das klingt nicht nach der klassischen Produktentwicklung bei Endress+Hauser – und sie ist es auch nicht. Entstanden ist das System im Innovationslabor des Kompetenzzentrums für Füllstands- und Druckmesstechnik. Ein kleines Team tüftelt dort an Produkten und Lösungen, um Smart-City-Konzepte zu verwirklichen und Labormessungen ins Feld zu holen. „Wir sind so etwas wie eine Keimzelle für neue Herangehensweisen und Geschäftsmodelle“, erklärt Florian Falger. Dabei wird nicht von der Technologie, sondern vom Anwender her gedacht. „Wir fragen uns: Wo gibt es konkreten Bedarf in Marktsegmenten, die neu für uns sind?“ Grundlage für die Entwicklungsarbeit sind das umfassende Know-how und das breite Portfolio von Endress+Hauser.

Funktionsübergreifende Zusammenarbeit sowie kundenzentrierte, agile Innovationsansätze wie Scrum, Design Thinking und die Lean-Startup-Methode machen das Team schnell. Und erfolgreich: Bereits auf dem Markt ist ein Multisensorsystem, mit dem Brauereien den Gärprozess ihres Biers in Echtzeit nachverfolgen können. Der Fermentation Monitor QWX43 sorgt für Aufsehen in der Branche und hat schon einen angesehenen Innovationspreis gewonnen.

Auch am Hochwasser-Frühwarnsystem sind viele Kommunen interessiert. Denn das System analysiert die Lage vor Ort, verschafft im Ernstfall einen Zeitgewinn und bedarf keiner aufwändigen Baumaßnahmen. Es kombiniert Füllstandsmesstechnik mit einer Cloud-Plattform, Künstlicher Intelligenz (KI) und Bodenfeuchte-Sensoren. Während Endress+Hauser die KI zusammen mit dem Hydrologie-Startup Okeanos entwickelt hat, stammen die Feuchtesensoren von der Tochterfirma IMKO: „Pegelstände allein genügen nicht für eine Vorhersage von Hochwasser“, sagt Florian Falger. „Auch der Boden ist wichtig: Ist dieser schon gesättigt oder ganz ausgetrocknet, fließt Starkregen direkt ab und lässt die Gewässer schnell ansteigen.“

So funktioniert das Hochwasser-Frühwarnsystem
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Das System erfasst die Situation vor Ort ganzheitlich. Dafür sammeln Sensoren Daten in einem bestimmten Gebiet: Sie erkennen Niederschlag und messen Pegelstände sowie Bodenfeuchtewerte direkt an Bächen und Flüssen und in deren Umgebung.

2

Die Messwerte werden per Mobilfunk in die Netilion-Cloud von Endress+Hauser übermittelt. Dort verrechnet sie ein KI-Algorithmus des Startups Okeanos. Auf Basis dieser Werte und weiterer Daten wie der Niederschlagsprognose kann die KI vorhersagen, wie sich die lokale Lage entwickelt.

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Steigt die Hochwassergefahr, informiert das System die Verantwortlichen automatisch per Smartphone, Tablet oder Computer. Sie erhalten einen genauen Überblick über die aktuelle Situation in ihrem Gebiet und darüber, wie sich die Lage voraussichtlich entwickeln wird.

4

Der Algorithmus lernt mit der Zeit dazu und versteht dadurch ein Gebiet immer besser. So können Hochwasserschutzkonzepte langfristig verfeinert werden – etwa indem Kommunen kritische Stellen durch gezielte Maßnahmen sichern.