Gas geben beim Wasserstoff
Grüner Wasserstoff hat das Potenzial, ganze Sektoren zu dekarbonisieren. Doch um das neue, emissionsfreie Energiezeitalter zu befeuern, muss er in riesigen Mengen hergestellt werden – ein Kraftakt, der gewaltige Anstrengungen erfordert. Unternehmen und Forscher arbeiten gemeinsam daran, die Industrie dem Ziel der CO2-Neutralität näherzubringen.
Mancherorts hat die Zukunft schon begonnen. Etwa in Nordfriesland, an der deutschen Nordsee-Küste: Dort ist das Land flach und der Horizont weit, Wiesen wechseln sich mit Feldern, und Windräder und Solarmodule erzeugen erneuerbare Energie. Über die letzten zwei Jahre sind noch fünf weiße Container hinzugekommen: In ihnen stecken Elektrolyseure des Unternehmens H-Tec Systems. Die Anlagen nutzen den vor Ort erzeugten Strom, um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten. Der Wasserstoff wird weiterverwendet.
Was einfach klingt, ist in Wirklichkeit viel mehr: das Puzzlestück einer globalen Energierevolution. Denn der durch Elektrolyse mit Wind-, Wasser- und Sonnenstrom produzierte Wasserstoff ist CO2-frei, also grün. „Damit kann er ein Schlüssel zur Energiewende sein und der Dekarbonisierung der Wirtschaft zum Durchbruch verhelfen“, sagt Uwe Wagner, globaler Branchenmanager für Kraftwerke und Energie bei Endress+Hauser.
Das emissionsfreie Gas dient als Allrounder vielen Sektoren: Es macht gerade nicht benötigten Grünstrom speicherbar, kann ins Gasnetz gespeist und in Brennstoffzellen in Strom und Wärme umgewandelt werden. In der Chemie dient es als Grundstoff zur Ammoniak- und Methanol-Produktion, in der Ölindustrie zur Raffination. Kombiniert mit CO2 entstehen daraus auch synthetisches Methan und synthetische Kraftstoffe. „Und in der Stahlindustrie kann grüner Wasserstoff Kohle als Reduktionsmittel bei der Roheisenherstellung im Hochofen ersetzen“, sagt Jens Hundrieser, europäischer Branchenmanager Energie bei Endress+Hauser.
Bislang wird der weltweite Wasserstoffbedarf mit aktuell 90 Millionen Tonnen jährlich fast komplett durch günstigen, aus fossilen Brennstoffen mittels Dampfreformierung gewonnenen grauen Wasserstoff gedeckt. Nur 0,03 Prozent der Produktion entfallen derzeit auf die Elektrolyse. Doch über 30 Länder haben nationale H2-Strategien verabschiedet oder geplant. Allein in der EU soll von 2024 bis 2030 die Produktion von erneuerbarem Wasserstoff auf zehn Millionen Tonnen pro Jahr steigen. Allianzen treiben das Vorhaben voran.
„Industrie und Wissenschaft arbeiten gemeinsam daran, grünen Wasserstoff wettbewerbsfähig zu machen.“
Jens Hundrieser,
Europäischer Branchenmanager Energie bei Endress+Hauser
Aus der Nische ins Herz der Industrie
„Industrie und Wissenschaft arbeiten gemeinsam daran, grünen Wasserstoff wettbewerbsfähig zu machen. Es wird an einer Produktion im industriellen Maßstab ebenso gearbeitet wie am Einsatz in einer Fülle von Anwendungen“, berichtet Jens Hundrieser. Zu den technologischen Vorreitern bei der grünen Wasserstoffherstellung gehören in Deutschland der PEM-Elektrolyseur- und Stack-Hersteller H-Tec Systems aus Augsburg sowie das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW).
Das ZSW entwickelt seit über zehn Jahren selbst und im Kundenauftrag Elektrolyseure und Komponenten, plant und erstellt Versuchsanlagen, baut Demonstrationssysteme. „Am Anfang hat uns der damals neue Power-to-Gas-Gedanke geleitet, um erneuerbare Energie zu speichern, die volatil und daher nicht verbrauchergerecht erzeugt wird. Wasserstoff ist aufgrund seiner hohen Energiedichte der ideale Stoff dafür“, sagt Andreas Brinner, Bereichsleiter Elektrolyse und Standortbegleitung. „Wir wollten daher einen alkalischen Elektrolyseur entwickeln, der effizient und kostengünstig arbeitet – also über einen hohen Wirkungsgrad verfügt, schnell angefahren werden kann, langlebig ist, Stillstände aushält und wenig Hilfsenergie benötigt.“
Diese Vorteile besitzt auch ein anderes großes Verfahren, auf das sich H-Tec Systems fokussiert: Die Protonen-Austausch-Membran-Elektrolyse
(Proton Exchange Membrane, kurz PEM). Anders als alkalische Elektrolyseure nutzt sie keine Kalilauge als Elektrolyt, sondern eine halbdurchlässige Membran, durch die die Protonen wandern. „PEM-Elektrolyseure haben den Vorteil, dass sie im dynamischen Teillastbereich mit einem hohen Wirkungsgrad betrieben werden, also Lastschwankungen der erneuerbaren Energien sehr gut ausgleichen können“, erklärt Emily Pröll, Marketingleiterin bei H-Tec Systems.
Da diese Technologie im Vergleich zur alkalischen Elektrolyse jung ist, wurde sie lange nur im sehr kleinen Maßstab und in Nischenanwendungen eingesetzt. „Die PEM-Elektrolyse hat noch viel Entwicklungspotenzial. Unser vorrangiges Ziel war es in den vergangenen Jahren, eine effiziente, skalierbare Technologie zu konstruieren, die es Kunden ermöglicht, Wasserstoff industriell in höchster Qualität möglichst kostengünstig herzustellen.“
Hohe Anforderungen an die Messtechnik
Die Wasserstoffproduktion stellt dabei viele Herausforderungen. „Bei der Elektrolyse gibt es sehr viele unterschiedliche Kreisläufe, die miteinander gekoppelt sind, und viele verschiedene variable Messgrößen an unterschiedlichen Stellen, die ständig zu überwachen sind. Daher braucht es entsprechend viel zuverlässige und präzise Messtechnik“, erklärt Andreas Brinner. Hinzu kommt: H2 ist das leichteste aller Gase mit sehr kleinen Molekülen. „Wasserstoff diffundiert leicht durch viele Materialien und kann zu einer Versprödung von Metallen führen“, betont Prasanth Sreekumar, Global Industry Development Manager Gas bei Endress+Hauser. „Daher müssen Materialien, Geräte und Dichtungen einer Anlage sorgfältig ausgewählt werden.“
Sowohl H-Tec Systems als auch das ZSW vertrauen wie viele andere Elektrolyse-Spezialisten auf Geräte von Endress+Hauser. „Wir setzen Messtechnik von Endress+Hauser schon sehr lange ein und schätzen die Qualität, Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Medienbeständigkeit und Variabilität – wir haben durch das große Portfolio sehr viele Optionen, die wir nutzen können“, sagt Andreas Brinner. Weitere Pluspunkte sind, dass die Geräte die Anforderungen an funktionale Sicherheit (SIL) und Explosionsschutz erfüllen. Das garantiert eine hohe Anlagensicherheit. „Mit den Sensoren von Endress+Hauser können wir die unterschiedlichsten Messaufgaben in unserem Prozess abdecken“, bestätigt Martin Linder, Entwicklungsingenieur bei H-Tec Systems. „Für uns wichtig ist zudem eine einfache und unkomplizierte Installation und Inbetriebnahme.“
900
Mio. t CO2 im Jahr stößt die Herstellung von Wasserstoff aus überwiegend fossilen Quellen heute aus.
Einer für alles
Grüner Wasserstoff aus Elektrolyse bietet Potenzial in vielen Sektoren: Er kann in Brennstoffzellen in Strom und Wärme umgewandelt, ins Gasnetz gespeist oder in Gasturbinen eingesetzt werden. In der Chemieindustrie dient er als Grundstoff für die Ammoniak- und Methanol-Produktion, in der Ölindustrie zur Raffination. Kombiniert mit CO2 entstehen daraus auch Methan und synthetische Kraftstoffe. In der Stahlindustrie kann grüner Wasserstoff Kohle als Reduktionsmittel bei der Roheisenherstellung im Hochofen ersetzen.
Die Elektrolyseure des Unternehmens H-Tec Systems sind kompakt gebaut: In mobilen Containern erzeugen PEM-Stacks effizient Wasserstoff.
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Mio. t H2 hat die chemische Industrie 2020 verbraucht – drei Viertel davon für die Ammoniak- und ein Viertel für die Methanol-Produktion. Für die Öl-Raffination wurden 2020 rund 40 Mio. t benötigt.
Endress+Hauser profitiert ebenfalls vom frühen Engagement bei grünem Wasserstoff. „So können wir mit unseren Kunden gemeinsam lernen und die Bandbreite von Produkten und Lösungen für die Wasserstoffwirtschaft vergrößern“, betont Prasanth Sreekumar. Der Markt benötigt unter anderem Geräte, die hohen Drücken von 1.000 bar und mehr standhalten, aber auch für extrem tiefe Temperaturen geeignet sind. „Innovation liegt in der DNA von Endress+Hauser. Wir verfügen heute über ein breites Portfolio für die kritischen Messpunkte in der Wasserstoff-Wertschöpfungskette“, sagt Prasanth Sreekumar.
Zum Angebot gehören Gasanalysatoren, die mit laserbasierten Technologien wie TDLAS und Raman-Spektroskopie zuverlässig und mit hoher Präzision die Qualität, Konzentration und Zusammensetzung von Gasen bestimmen – und das bei minimalem Wartungsaufwand. Hinzu kommen Lösungen entlang der Wertschöpfungskette, etwa für Durchflussmessungen in Pipelines oder die Füllstandsmessung in Tanks mit flüssigem Wasserstoff. Die Kunden profitieren zudem von der Gaskompetenz von Endress+Hauser. „Wir haben im Laufe der Jahre wertvolle Prozess- und Branchen-Kenntnisse erworben – aus Anwendungen mit grauem und blauem Wasserstoff, inklusive CO2-Abscheidung“, berichtet Prasanth Sreekumar. „Das macht es leichter, gemeinsam Standards für neue Anwendungen zu erarbeiten.“
H-Tec Systems hat schon mehrfach gezeigt, dass die PEM-Technologie die Energiewende voranbringt. Im größten deutschen Wasserstoff-Mobilitätsprojekt E-Farm in Nordfriesland zum Beispiel wird das hergestellte H2 zu Wasserstoff-Tankstellen transportiert. Bei anderen Projekten wird grüner Wasserstoff ins Gasnetz eingespeist oder direkt in Gasturbinen verwendet. „Mittlerweile werden wir von Anfragen überrannt – das Interesse kommt zusätzlich zu Mobilitätsanwendungen auch aus industriellen Bereichen“, erzählt Emily Pröll. Auch Andreas Brinner von ZSW bestätigt: „Wir haben viel zu tun.“
Auf dem Weg zur Massenproduktion
Sowohl beim ZSW als auch bei H-Tec Systems liegt der Fokus derzeit darauf, die Kosten für grünen Wasserstoff weiter zu senken, um ihn wettbewerbsfähiger zu machen. Dazu wird mit Hilfe von Daten der Elektrolyseprozess optimiert und die Nennleistung der einzelnen Module erhöht, aus denen die Anlagen aufgebaut sind. „Wir dringen gerade in immer größere Bereiche vor“, berichtet Emily Pröll. „Dadurch wird es immer mehr Anlagen in zweistelligen Megawattbereichen geben.“
Zudem soll die Serienfertigung von Elektrolyseuren ermöglicht werden. Dazu arbeitet H-Tec Systems im Rahmen des von der Bundesregierung geförderten Wasserstoff-Leitprojekts H2Giga mit Partnern aus Industrie und Forschung an neuen Produktionsverfahren für PEM-Elektrolyse-Stacks und Elektrolyseure. Das ZSW befasst sich ebenfalls mit der Frage, wie sich Elektrolysetechnologien weiter skalieren lassen. „Hierzu erforschen wir Materialien und Fertigungstechnologien, mit denen die Skalierung industriell umgesetzt werden kann“, sagt Andreas Brinner. Die Wissenschaftler erstellen außerdem ein Konzept zur Fertigung von Elektrolyseblöcken in großem Maßstab.
Dass es mit dem grünen Wasserstoff vorangeht, zeigt sich auch bereits am Markt: Seit 2021 betreibt Shell Europas größten PEM-Elektrolyseur mit zehn Megawatt Leistung; 2022 geht mit 24 Megawatt der weltgrößte PEM-Elektrolyseur des Industriegase-Herstellers Linde in Betrieb. Auch mehrere 100-Megawatt-Projekte sind rund um den Globus bereits geplant. Im Fokus stehen vor allem Regionen, welche über erneuerbare Ressourcen für die Elektrolyse im Überfluss verfügen: günstigen Strom aus Solar-, Wind- oder Wasserkraftanlagen sowie Meerwasser, das entsalzt werden kann.
Die Zukunft nimmt gerade also noch mehr an Fahrt auf. Ob die Beschleunigungskräfte ausreichen, hängt allerdings nicht nur an Investitionen, neuen Technologien oder der Veränderungsbereitschaft der Industrie. „Auch die politischen Rahmenbedingungen müssen stimmen“, betont Jens Hundrieser, der Endress+Hauser neuerdings auch in der European Clean Hydrogen Alliance vertritt. Und das heißt vor allem: „Die Emission von Kohlendioxid muss einen globalen Preis bekommen. Nur dann kann die Energiewende gelingen. Nur dann wird sich die Wasserstoffwirtschaft durchsetzen. Und nur dann können die globalen Klimaziele erreicht werden.“
Zuverlässig, präzise und robust: Das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg setzt bei der Überwachung der Elektrolyse-Prozesse auf Messgeräte von Endress+Hauser.
Veröffentlicht am 11.07.2022, zuletzt aktualisiert am 14.09.2022.
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