Erst simulieren, dann bauen

Nahezu jedes Gerät von Endress+Hauser wird heute mithilfe computergestützter Simulation entwickelt. Das führt nicht nur zu überragenden Produkteigenschaften, es hebt auch Innovationsprozesse auf eine neue Stufe.

Text: Kirsten Wörnle
Fotografie: Andreas Zimmermann
Rieder Drahm Kumar disucussion on table in office

ENTWICKLUNG

Es ist ein typischer Anwendungsfall aus Wasserwerken oder der Lebensmittelproduktion: An einem bestimmten Punkt der Anlage soll ein Durchfluss gemessen werden, aber kurz davor oder dahinter krümmt sich das Rohr. Die Flüssigkeit bekommt Drall, verwirbelt – sie fließt nicht so ruhig durchs Messgerät, wie es der Sensor verlangt. Das Messergebnis ist verzerrt.

Lange Zeit mussten Anlagenbetreiber bei einer solchen gestörten Strömung entweder die empfohlenen Ein- und Auslaufstrecken einhalten oder ein Messgerät mit eingeschnürtem Messrohr einsetzen. Seit 2020 gibt es von Endress+Hauser ein Gerät, das unabhängig von den Einlaufbedingungen genau misst: Der Promag W mit der Option 0 × DN Full Bore ist das weltweit erste magnetisch-induktive Durchflussmessgerät, das immer korrekte Messwerte liefert – egal, wie das Strömungsprofil aussieht. Entwickelt wurde es mithilfe numerischer Simulation.

TAUSENDE VIRTUELLE PROTOTYPEN

Numerische Simulation heißt, ein zahlengestütztes Abbild eines Messgeräts im Computer aufzubauen und dann unter verschiedensten Parametern durchzutesten. „Wir stoßen mit dieser Methode heute in der Produktentwicklung in Innovationsbereiche vor, die früher undenkbar schienen und auf konventionellen Wegen nicht mehr erreichbar sind“, sagt Dr. Wolfgang Drahm, der ein 20-köpfiges Team von Vor- und Grundlagenentwicklern bei Endress+Hauser Flow leitet. Dabei bildet das Computermodell jeweils nur die spezifische Fragestellung ab, nie das Gerät an sich: „Eine Strömungssimulation benötigt ein anderes Modell, als wenn man die Schwingungseigenschaften oder die magnetischen Eigenschaften eines Durchflussmessgeräts berechnet“, erklärt Wolfgang Drahm.

Steht das Modell, kann man unzählige Designs und Störungseinflüsse simulieren: Wie wirken sich verschiedene Durchmesser eines Rohres auf die Strömung aus? Wie die Nenndruckstufe, die Viskosität des Mediums oder Störfaktoren wie ein 90-Grad-Rohrbogen direkt vor dem Gerät? „Noch bevor ein Gerät physisch geboren ist, wissen wir, wie es sich verhalten wird“, sagt Dr. Vivek Kumar, der als Principal Expert das Thema Simulation bei Endress+Hauser Flow vorantreibt. Die Fülle an Parametern in der Prozessindustrie wäre mit Papier, Bleistift und Gleichungen heutzutage gar nicht mehr zu erfassen.

Stattdessen rechnen Computer tausende virtuelle Prototypen durch, bevor der erste physische gebaut wird. „Wir können mit Simulationen das Design von Geräten so weit vorantreiben, dass sie zunehmend robust gegen Störungen sind“, erläutert der Strömungsmechaniker. So, wie beim Promag W ohne Ein- und Auslaufstrecken: „Niemand konnte sich vorstellen, dass solch ein Gerät möglich ist“, ergänzt Wolfgang Drahm. Tatsächlich habe die Lösung in einem ganz engen Fenster gelegen: „Mit dem Computer, der alles nach den Ideen und Vorgaben des Entwicklungsteams durchgetestet hat, konnte dieses einzigartige Design gefunden werden.“

Gruppenbild
SIMULATION IN DER GERÄTEENTWICKLUNG

Endress+Hauser hat die Simulationstechniken entlang der gesamten Entwicklungskette verankert. Auch die Frühentwicklung profitiert von simulationsgestützten Grundsatzentscheidungen. Entwickler müssen in diesem Fall keine Fachexperten mehr heranziehen. Endress+Hauser fördert diese „Demokratisierung des digitalen Engineerings“ standortübergreifend mit Schulungen, einer Wissens-Community und entsprechender Infrastruktur.

DER MENSCH INSTRUIERT DIE MASCHINE

Möglich werden solche virtuellen Entwicklungen durch immer mehr Rechenleistung, immer benutzerfreundlichere Software – und Surrogatmodelle: Diese „Ersatzmodelle“ potenzieren die numerische Simulation mithilfe von mathematischen Korrelationen und maschinellem Lernen. „Wo wir in der Strömungsmechanik mit numerischer Simulation über das Wochenende mehrere hundert Simulationen fahren können, optimieren wir mit Surrogatmodellen heute sogar tausende Designs automatisch.“

„Viele unserer Innovationen wären ohne die enge Symbiose zwischen Simulation und Experiment nicht möglich gewesen“, betont Dr. Alfred Rieder, der bei Endress+Hauser Flow eine Einheit für die Grundlagenentwicklung von Coriolis-Messgeräten leitet. Dabei gebe Simulation den Entwicklungsingenieuren wieder Raum für ihre eigentliche Tätigkeit. „Wir können uns ganz den physikalischen Fragen widmen, während der Computer die Szenarien durchrechnet“, so der Experte. Genau hier wird der Faktor Mensch wirklich gebraucht: „Dass Computer simulieren, ist nicht schwer. Das Schwierige ist, dem Computer beizubringen, was ein gutes Gerät ist.“ Nur wenn der Mensch genau versteht und vorgibt, worauf es ankommt, kann die Maschine richtig arbeiten.