Vom Problem zum Produkt
Treibhausgasemissionen lassen sich in der Zementindustrie nicht vermeiden. Ein Nachteil? Nicht für Holcim Deutschland. Der Baustoffproduzent sieht darin eine große Chance für die Zukunft.
CARBON CAPTURE
Wer einen Blick in die Zukunft der Zementindustrie werfen will, muss zu Holcim nach Lägerdorf in Schleswig-Holstein fahren. Dort wird seit über 160 Jahren aus den reichhaltigen Kreidevorkommen rund um die Uhr das begehrte Bindemittel für Beton produziert. 1,5 Millionen Tonnen sind es jährlich; 1,2 Millionen Tonnen CO2 gelangen dabei in die Atmosphäre. Die Zementindustrie ist einer der größten Treibhausgas-Emittenten der Welt. Doch zumindest in Lägerdorf soll sich dies ändern. „Als eines der ersten Zementwerke überhaupt wollen wir in sechs Jahren klimaneutral sein“, sagt Arne Stecher.
Arne Stecher leitet die Dekarbonisierung bei Holcim Deutschland. Er ist dort seit 25 Jahren in Führungsrollen, aber solche Zeiten hat er noch nie erlebt. „Wir befinden uns in einer globalen Transformation: Fossile Wertschöpfungsketten verschwinden, neue, grüne entstehen. Alle Unternehmen müssen sich verändern“, sagt Arne Stecher. Nicht nur, um das Klima zu retten; auch, um die eigene Zukunft zu sichern. Doch während viele Industrien durch Brennstoff- oder Prozesswechsel grün werden können, klappt das bei der Zementherstellung nicht: Zwei Drittel der Emissionen entstehen beim Brennen des Zementklinkers im Ofen. Dabei zerfällt Kreide als Calciumcarbonat (CaCO3) in Calciumoxid (CaO) und CO2. „Zement wird es nie ohne CO2 geben“, sagt der Verfahrensingenieur.
Im Jahr 2016, das Pariser Klimaschutzabkommen war gerade in Kraft getreten, stellten sich die Verantwortlichen des weltweit führenden Baustoffkonzerns Holcim deshalb zwei Fragen: Wie können wir Millionen Tonnen unvermeidbares CO2 wirtschaftlich auffangen? Und was machen wir dann damit? „Wir haben den Markt und die Forschung für Carbon-Capture-Technologien gescannt, 80 interessante Ansätze identifiziert und 50 Pilotprojekte weltweit aufgesetzt“, sagt Arne Stecher. „Daraus werden vielleicht 25 reale industrielle Projekte entstehen und sich am Ende eine Handvoll Technologien herauskristallisieren.“
In Deutschland sind alle drei Werke Pilotwerke. In Lägerdorf wird ab 2024 eine neue Ofenlinie mit dem innovativen Oxyfuel-Verfahren gebaut. Dabei wird reiner Sauerstoff statt der bisher üblichen Umgebungsluft in den Verbrennungsprozess der Klinkerherstellung geblasen. Im Ergebnis entsteht ein Abgasstrom aus fast komplett hochreinem Kohlendioxid, das so einfach eingesammelt und genutzt werden kann. „Wegen der Um- und Neubauten und der Investitionen im mittleren dreistelligen Millionenbereich ist dieser integrierte Ansatz jedoch nur an groß strukturierten Standorten umsetzbar, die noch eine lange Rohstoffverfügbarkeit haben“, sagt Arne Stecher.
Arne Stecher leitet die Dekarbonisierung bei Holcim Deutschland.
In Beckum ist Endress+Hauser Messtechnik beim Test neuester Aminwäsche-Technologie dabei.
„CO2 wird in Zukunft ein begehrter Rohstoff sein.“
Arne Stecher
Leiter Dekarbonisierung Holcim Deutschland
WIRTSCHAFTLICHER EINSATZ
Andernorts sollen deshalb End-of-Pipe-Technologien nachgerüstet werden: Der Prozess bleibt unverändert, das CO2 wird nachgeschaltet aus dem Rauchgasstrom abgeschieden. Dafür entwickelt Holcim mit Forschungs- und Technologiepartnern in den beiden anderen Werken neue Aminwäsche- und Membrantechnologien. Hier ist Endress+Hauser mit Geräten zur effizienten und sicheren Steuerung der Prozesse dabei. „Carbon Capture ist als Thema für uns nicht neu. In der Öl- und Gasindustrie wird Kohlendioxid schon lange zur Stimulierung von Lagerstätten abgeschieden. Wir verfügen hier über großes Anwendungswissen“, erklärt Frederik Effenberger, Branchenmanager Dekarbonisierung bei Endress+Hauser. Bei den Tests geht es darum, möglichst hohe Abscheideraten mit hoher Reinheit bei geringem Ressourceneinsatz zu erzielen.
Ist die Dekarbonisierung für Holcim also vor allem ein Technologiethema? „Nein“, sagt Arne Stecher. „Der große Wandel findet jenseits des Werkzaunes statt: Denn um das CO2 zu nutzen, müssen wir neue Wertschöpfungsketten aufbauen und in Stoffkreisläufen denken. Dafür brauchen wir Partnerschaften.“ Beispiel Lägerdorf: Der Sauerstoff für den Oxyfuel-Prozess soll aus Elektrolyseuren anderer Unternehmen stammen, die Wasser mit Ökostrom in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten. Das CO2 will Holcim mit seinen Partnern unter anderem für die Petrochemie aufbereiten, die daraus wiederum mit Wasserstoff E-Fuels, E-Chemicals und E-Methanol herstellt, oder es direkt als Grundstoff an die chemische Industrie abgeben. Es braucht
Logistik, Infrastruktur, Abnehmer sowie Kohlendioxid in diversen Reinheitsgraden. Und: „Die Stoffströme müssen kontinuierlich fließen“, sagt Arne Stecher, der elf Jahre Einkaufsleiter bei Holcim war. „Lieferantenpartnerschaften gehören daher auch jetzt wieder zu meinen Hauptthemen.“
8%
der weltweiten CO2-Emissionen verursacht die Zementindustrie.
BEGEHRTER ROHSTOFF
Holcim Deutschland, sagt der Dekarbonisierungs-Experte, sei in Sachen Carbon Capture and Utilization (CCU) im Konzern, aber auch in der Branche ein First Mover. Arne Stecher ist überzeugt, dass sich die Vorreiterrolle lohnt: Damals, als er anfing, sich mit CCU zu beschäftigen, kostete eine Tonne CO2 im europäischen Emissionsrechtehandel 20 Euro; 2022 lag der Preis bei 80 Euro. „Schon heute ist der Zeitpunkt gekommen, an dem es Sinn macht, in Vermeidungstechnologien zu investieren“, betont er. Zugleich besetzt Holcim als First Mover einen entstehenden Markt – den für CO2. „Die neuen grünen Wertschöpfungsketten werden nicht ohne CO2 funktionieren, allein die chemische Industrie wird immer eine Kohlenstoffquelle brauchen“, sagt der Dekarbonisierungs-Experte. Holcim kann sie in den benötigten riesigen Mengen liefern. CO2 wird vom Problem zum Produkt. „Ich gehe davon aus, dass CO2 in Zukunft ein begehrter Rohstoff sein wird“, sagt Arne Stecher.
Veröffentlicht am 20.12.2023, zuletzt aktualisiert am 12.01.2024.
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