Schmetterlings-effekt
Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann in Texas einen Tornado auslösen: Mit diesem Bild machte der Meteorologe Edward Lorenz die Chaostheorie populär. Sie lässt sich auch auf Lieferketten übertragen – dort können kleinste Abweichungen ebenfalls größte Auswirkungen haben.
In unseren auf Effizienz getrimmten modernen Lieferketten haben Störungen schnell unerwartete Effekte. So geschehen im Sommer 2022: Als Folge des Ukraine-Kriegs wurde das Erdgas in Europa so knapp und teuer, dass Düngemittel-Produzenten ihre Ammoniak-Syntheseanlagen teilweise oder ganz herunterfahren mussten. Geplante Stillstände von Anlagen in den USA verschärften die Situation. Und dieser „Flügelschlag“ im Wald der Destillationskolonnen führte bei den Getränkeherstellern zur Flaute – denn die technische Kohlensäure, die sie in der Abfüllung benötigen und mit der sie Erfrischungsgetränke versetzen, stammte bis dahin aus dem Kohlendioxid, das als Nebenprodukt bei der Ammoniak-Synthese anfällt. Die Folge: Zahlreiche Brauereien, Limonadenhersteller und Mineralwasserabfüller mussten ihre Produktion einschränken.
VOM VERBUND ZUR GLOBALEN LIEFERKETTE
Wenn in der Chemie Produktionsprozesse so miteinander vernetzt sind, dass Abfallprodukte eines Prozesses als Rohstoffe für einen anderen Prozess dienen, spricht man nicht nur im deutschsprachigen Raum vom „Verbund“. Integrierte Chemiekomplexe wie die von Dow oder BASF haben diese Art der Supply Chain längst zur Kunstform erhoben, die die Ressourceneffizienz und damit die Wirtschaftlichkeit eines Produktionsstandorts entscheidend stärkt. Kehrseite der Medaille: Bricht ein Glied aus der Kette heraus, kann das an anderer Stelle – im Werk und darüber hinaus, wie das Beispiel mit der Getränkeproduktion verdeutlicht – unvorhergesehene Folgen haben. Und wer nicht liefern kann, verliert; nicht nur Umsatz, sondern auch Marktanteile und oft auch dauerhaft Kunden.
Lieferfähigkeit ist aber nur ein Aspekt in einer wachsenden Palette von Herausforderungen, die Unternehmen beim Managen ihrer Lieferketten bewältigen müssen. Einerseits hat die Globalisierung der Lieferketten in den letzten Jahrzehnten neue Marktchancen und erweiterte Kooperationsmöglichkeiten geschaffen. Gleichzeitig hat aber auch deren Komplexität und Anfälligkeit zugenommen.
Ob Chemie, Pharma, Automobil oder Maschinenbau – in allen Branchen sind die Lieferketten in jüngster Zeit unter Druck geraten. Unsicherheit und Risiken nehmen weiter zu. Spätestens mit der Corona-Pandemie sind den globalen Wirtschaftsakteuren viele Gewissheiten abhandengekommen: Waren es 2020 und 2021 die aus Seuchenschutzgründen geschlossenen Häfen in China, störten danach die Havarien der Containerschiffe Ever Given im Suezkanal und der Dali in Baltimore einst stabil geglaubte Lieferwege.
Derzeit führt die Dürre in Mittelamerika dazu, dass sich der Schiffsverkehr am Panamakanal staut – denn für die Schleusen an dem 80 Kilometer langen Kanal steht nicht genug Wasser zur Verfügung. Aber auch die wachsenden geopolitischen Spannungen tragen zur Verunsicherung bei: Angriffe jemenitischer Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe im Roten Meer zwingen Reeder immer wieder, ihre Frachter auf die deutlich längere Route um den afrikanischen Kontinent zu schicken. Bei der Großreederei Maersk schätzt man, dass dadurch weltweit 15 bis 20 Prozent der Frachtkapazitäten zwischen Asien und Europa verloren gehen.
KOMPLEXITÄT BRAUCHT STABILITÄT
Gleichzeitig erfordert gerade die Herstellung hochkomplexer Produkte, die viele Rohstoffe, Zwischenprodukte und spezielle Komponenten benötigen, stabile, vorhersehbare und planbare Lieferketten. Risikomanagement ist daher das Gebot der Stunde und so mancher Pessimist sieht bereits das Ende der Globalisierung heraufziehen: Lokalisierung, Nearshoring und Friendshoring sind derzeit heiß diskutierte Themen, Lieferkettenresilienz wird zum Zielbild von Logistikern und Supply Chain Managern. Die Grundfrage lautet dabei: Wie lässt sich die Anfälligkeit der Lieferkette gegenüber Störungen reduzieren? Und für immer mehr Unternehmen ist die Antwort inzwischen klar: Existierende Supply Chains müssen transformiert werden. Zum einen, um die Komplexität beherrschbar zu machen, zum anderen, um die steigenden Anforderungen von Kunden und Behörden besser zu erfüllen.
Für die Prozessindustrie mit ihren energieintensiven Verfahren rückt noch eine weitere Herausforderung in den Vordergrund: die nachhaltige Produktion sowie die Dekarbonisierung oder zumindest die Defossilisierung. Denn fast alle Unternehmen der Branche bekennen sich zum Ziel der Pariser Klimakonvention, ab dem Jahr 2050 unter dem Strich keine Treibhausgase mehr auszustoßen. Viele Firmen haben sich sogar deutlich ehrgeizigere Ziele gesetzt.
Die größte Herausforderung sind dabei Treibhausgase, die nicht im eigenen Unternehmen, sondern in der Wertschöpfungskette ausgestoßen werden – sogenannte Scope-3-Emissionen. Der Wirtschaftsverband der europäischen chemischen Industrie Cefic schätzt, dass mehr als 70 Prozent der CO2-Emissionen von Chemieunternehmen auf das Konto solch indirekter Belastungen gehen. Und Regierungen auf der ganzen Welt machen weiter Druck. Seit Januar 2024 müssen viele Unternehmen in Europa die Berichtspflichten der CSRD, der neuen EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, erfüllen und regelmäßig einen Nachhaltigkeitsbericht vorlegen. In den USA schreibt inzwischen sogar die Börsenaufsichtsbehörde Unternehmen vor, klimabezogene Risiken und Daten offenzulegen. Im asiatisch-pazifischen Raum werden ebenfalls entsprechende Regulierungen vorangetrieben.
„Der Beitrag der Lieferkette zur Nachhaltigkeit wird entscheidend sein.“
Dr Hanno Brümmer,
Executive Vice President Supply Chain und Logistik bei Covestro
15%
bis 20 % der Frachtkapazitäten zwischen dem Fernen Osten und Europa gehen laut der Reederei Maersk verloren, weil Schiffe infolge der Angriffe der Huthi-Rebellen im Roten Meer Umwege fahren müssen.
ALLES SICHTBAR MACHEN
Auch für die Lieferkette gilt dabei eine Grundregel, die jeder Prozessautomatisierer verinnerlicht hat: Man kann nur das regeln, was man vorher auch gemessen hat. Wieviel CO2 setzt die Herstellung von Rohstoffen und Verpackungen frei, bis sie das eigene Werkstor erreichen? Wie groß ist der CO2-Fußabdruck von zugelieferten Elektronik- oder Gehäusekomponenten? Solche Fragen lassen sich meist nicht aus dem Stand beantworten. Sie erfordern neue Ansätze in der Kommunikation zwischen Lieferanten und Kunden.
Die Ende-zu-Ende-Sichtbarkeit der Lieferkette ist ein Schlagwort, das derzeit unter Supply-Chain-Managern die Runde macht. Sie wollen ihr gesamtes Lieferkettennetzwerk umfassend verstehen lernen. Dazu unterziehen sie die Praktiken und Sicherheitsmaßnahmen der Lieferanten strengen Audits. Es geht dabei nicht nur um Aspekte wie Lieferfähigkeit, Nachhaltigkeit und Konformität mit Regularien wie beispielsweise dem aktuellen EU-Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Immer wichtiger wird auch der Schutz vor Hackern. Denn diese haben die Lieferkette längst als Einfallstor erkannt und suchen gezielt nach Schwachstellen bei Suppliern, um in die Systeme eines Zielunternehmens einzudringen.
Als „Sündenfall“ gilt unter Sicherheitsexperten der Solarwinds-Hack aus dem Jahr 2020. Dabei hatten Cyberkriminelle die IT-Management-Software des amerikanischen Softwareanbieters Solarwinds infiltriert und über reguläre Software-Updates Schadcode verbreitet, der weltweit tausende Unternehmensnetzwerke kompromittierte. Kein Wunder, dass laut der aktuellen Umfrage „Supply Chain Plans 2024“ der Plattform Software Advice die Hälfte der befragten Unternehmen verstärkt in Cybersicherheit investieren will. Bei 43 Prozent dieser Firmen hatten Cyberangriffe im Jahr 2023 zu Betriebsunterbrechungen geführt.
Auch die angestrebte Kreislaufwirtschaft, in der Produkte am Ende ihres Lebenszyklus wieder zu Rohstoffen für neue Produkte werden, braucht die Ende-zu-Ende-Sichtbarkeit der Supply Chain. „Der Beitrag der Lieferkette zur Nachhaltigkeit wird entscheidend sein – sowohl im Hinblick auf die direkten Scope-3-Emissionen als auch beim Übergang der chemischen Industrie zur Kreislaufwirtschaft“, bilanzierte jüngst Dr. Hanno Brümmer, Executive Vice President Supply Chain und Logistik bei Covestro, nach einem Treffen von Supply-Chain-Experten verschiedener Chemieunternehmen. „Damit wir die Wiederverwendung unserer Ressourcen erreichen, müssen wir unsere Lieferketten noch stärker vernetzen“, erklärte Dr. Thomas Schamberg, Senior Vice President Supply Chain bei Evonik, anlässlich des ChemSCM 4.0-Kongresses in Berlin.
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der Lieferkettenverantwortlichen wollen laut einer Umfrage der Plattform Software Advice 2024 in Nachhaltigkeitsmaßnahmen investieren.
„Wer die Lieferkette nicht beherrscht, verliert Marktanteile.“
Oliver Blum,
Corporate Director Supply Chain bei Endress+Hauser
DIGITALISIERUNG ALS SCHLÜSSEL
Schützenhilfe erhalten die Supply-Chain-Manager aus der Ecke der Digitalisierungsexperten. „Mit Industrie 4.0 werden immer mehr Systeme unmittelbar miteinander vernetzt, um eine Ende-zu-Ende-Automatisierung der Supply Chain zu erreichen“, erklärt Dr. Felix Hanisch, Vorstandsvorsitzender der Anwendervereinigung für Prozessautomation NAMUR: „Dafür brauchen wir valide Messungen – in der Anlage genauso wie im Markt.“ Durch Kombinieren von Messdaten aus Lagerhaltung und Produktionsanlagen mit Informationen aus der Logistik lässt sich das Verhalten von Lieferketten und Märkten modellieren.
„Damit wir die Wiederverwendung unserer Ressourcen erreichen, müssen wir unsere Lieferketten noch stärker vernetzen.“
Dr Thomas Schamberg
Senior Vice President Supply Chain bei Evonik
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz spielen dabei eine Schlüsselrolle. Sie werden es Unternehmern in Zukunft immer besser ermöglichen, agil auf Störungen in der Lieferkette zu reagieren und auch digitale Geschäftsmodelle zu realisieren. „Wir müssen die Balance zwischen Effizienz und Resilienz immer wieder neu austarieren“, resümiert Oliver Blum, Corporate Director Supply Chain bei Endress+Hauser, „denn wer die Lieferkette nicht beherrscht, verliert Marktanteile.“ Dabei sind aus Sicht des Supply-Chain-Experten jedoch nicht nur Risikomanagement, Maßnahmen und Methoden entscheidend: „Vor allem die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit externen Lieferanten und Dienstleistern ist wichtig.“
Und zumindest viele Bierbrauer haben derweil eine naheliegende Lösung für das eingangs erwähnte Supply-Chain-Problem gefunden: Statt Kohlensäure zuzukaufen, fangen viele Brauereien inzwischen das bei der Gärung austretende Kohlendioxid auf und nutzen es für ihre Abfüllung. Ein Musterbeispiel dafür, was möglich ist, wenn Verfahrenstechnik und Kreislaufwirtschaft Hand in Hand gehen.
Zum Autor: Armin Scheuermann ist Chemieingenieur und Fachjournalist
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Punkte hat der Global Supply Chain Pressure Index – ein Maß für die Belastung der weltweiten Lieferketten – 2021 auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie erreicht. Bezugspunkt ist der historische Durchschnittswert von 0.
Veröffentlicht am 05.11.2024, zuletzt aktualisiert am 12.11.2024.
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