Nachhaltigkeit als Chance
Die Zukunft der Prozessindustrie steht unter dem Zeichen der Klimaneutralität. Die Herausforderungen auf dem Weg dorthin sind groß. Doch wer sie meistert, wird mit qualitativem Wachstum belohnt.
Es sind intensive Jahre für die Industrie: Geopolitische Spannungen und gestörte Lieferketten, steigende Energiepreise und Rohstoffknappheit, Inflation und Fachkräftemangel fordern die Unternehmen heraus. Gleichwohl schiebt sich in diesem dynamischen Umfeld ein Thema immer wieder nach oben auf die Tagesordnung: Führungskräfte weltweit sehen den Klimawandel laut Deloitte als eines der derzeit drängendsten Probleme. Denn damit das 1,5-Grad-Ziel von Paris erreicht wird und unser Planet für alle lebenswert bleibt, müssen alle wirtschaftlichen Aktivitäten in nachhaltige Bahnen gelenkt, müssen Prozesse, Produkte und Sektoren dekarbonisiert werden. Dabei kommt der Prozessindustrie eine Schlüsselrolle zu, umspannt sie doch die gesamte Produktionskette von der Ressourcenbeschaffung bis zum Endprodukt. Rund um den Globus wird daher nach Wegen für eine Wirtschaft gesucht, die nicht weiter auf den Verzehr fossiler Energien baut.
„Wir werden in den kommenden Jahren einen kompletten Wandel der Wirtschaft erleben.“
Gauri Singh
stellvertretende Generaldirektorin der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien
Handlungsdruck von vielen Seiten
„Die Frage, die sich jedes Unternehmen heute stellen muss, ist: Gewinnt oder verliert die Welt durch mein Geschäft?“, sagt Oliver Hahn von Bosch Climate Solutions, der Top-Manager berät. Wer jetzt die Rechnung mache, ohne Auswirkungen auf Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung einzukalkulieren, riskiere, in zehn Jahren nicht mehr am Markt zu sein. Zur Trias „Preis – Leistung – Verfügbarkeit“ kommt der Wert der Nachhaltigkeit hinzu; allein schon, weil Gesetzgeber das inzwischen vorschreiben und umfassende Berichtspflichten auferlegen. Doch auch Investoren orientieren sich immer stärker an Nachhaltigkeitsaspekten. Entsprechend fließen Kapitalströme jenen Unternehmen zu, die sich hier gut positionieren. Darüber hinaus spüren insbesondere Unternehmen in den OECD-Ländern, dass mehr und mehr Arbeitnehmer eine Aufgabe mit Sinn suchen und Verbraucher ethisch hergestellte Waren verlangen.
Mittlerweile ist der Transformationsdruck größer denn je. „Nicht verändern geht nicht“, sagt Michael Sinz, der als Director Strategic Business bei Endress+Hauser das globale Geschäft der Firmengruppe mit Schlüsselkunden vorantreibt. Sich auf den langen Weg der Dekarbonisierung zu begeben, bedeutet jedoch, eine Mammutaufgabe mit vielen Unbekannten Schritt für Schritt zu lösen: Fossile Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen, zusammen mit grünem Wasserstoff als Energiespeicher und als Rohstoff für die Chemie- und Stahlindustrie; graue Wertschöpfungsketten herunterzufahren und neue grüne aufzubauen. Das alles erfordert Investitionen, Innovationskraft, einen langen Atem sowie schnell umsetzbare Lösungen, um den Übergang in die neue Zukunft klug zu gestalten.
„Wir brauchen Effizienzverbesserungen mehr denn je.“
Mike Berners-Lee
Hochschullehrer und Experte für CO2-Fußabdrücke
Langfristige Projekte und schnelle Resultate
Wie der Weg zu Netto-Null genau verlaufen kann, hat die Internationale Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) vorgerechnet: Stärkste Hebel sind der Einsatz erneuerbarer Energien und die substanzielle Verbesserung der Energieeffizienz. Beides könnte jeweils ein Viertel der bis 2050 einzusparenden Treibhausgase abdecken. Ein knappes Fünftel ließe sich über die Elektrifizierung des Endverbraucher-Sektors einsparen, mehr als ein Zehntel über sauberen Wasserstoff und entsprechende Derivate sowie ein weiteres Fünftel durch das Abscheiden, Nutzen und Speichern von CO2 (Carbon Capture, Use and Storage, CCUS).
Wie viel hier getan wird, vor allem im Stromsektor, zeigt der Rekordzubau an globaler erneuerbarer Kapazität von 300 Gigawatt im Jahr 2022. Gleichwohl müsste jährlich mehr als dreimal so viel neu installiert werden, um das 1,5-Grad-Ziel zu halten, zumal der Energiehunger rund um die Erde kontinuierlich wächst. Außerdem braucht der Aufbau der Wasserstoffindustrie mehr Tempo. Doch das erfordert neue Standorte, die über große Mengen an erneuerbaren Energien verfügen und den kostengünstigen Betrieb von Elektrolyseuren erlauben. Infrastrukturen für Transport und Speicherung des Wasserstoffs und seiner Derivate müssen aufgebaut werden – und alle Elemente zusammen müssen massiv hochskaliert werden.
Während die Energiewende ein Projekt für Generationen ist, lassen sich im Bereich der Energie- und Ressourceneffizienz leichter schnelle Erfolge fürs Klima und damit einhergehend Kostenvorteile erzielen – schließlich sind die Maßnahmen meist in den bestehenden Anlagen umsetzbar. „Wir brauchen Effizienzverbesserungen mehr denn je“, sagt der Hochschullehrer und Nachhaltigkeitsexperte Mike Berners-Lee, der zum Thema CO2-Fußabdruck forscht. Die Umstellung auf erneuerbare Energien alleine reiche nicht aus.
Insbesondere bei der Prozesswärme könnte die Industrie durch energetische Optimierung eine Menge Energie sparen, im Schnitt 15 Prozent. Doch das Gesamtpotenzial ist weitaus höher, wie eine Berechnung aus Deutschland zeigt: Knapp die Hälfte des industriellen Endenergiebedarfs von 2021 wäre mit verfügbaren Energieeffizienz-Technologien vermeidbar gewesen. Das entspricht der Stromproduktion von acht großen Kern- oder Kohlekraftwerken. Fast zwei Drittel dieser Effizienzpotenziale wurden einzig deshalb nicht erschlossen, weil sie sich nicht innerhalb von drei Jahren amortisieren. Über längere Zeit gerechnet wären diese Maßnahmen durchaus wirtschaftlich.
„Der Schutz der Umwelt ist nicht langweilig und teuer, sondern aufregend und profitabel.“
Bertrand Piccard
Solarflug-Rekordhalter und Öko-Pionier
Zirkulare statt linearer Wertschöpfung
Ein weiterer Ansatz, um die Kosten der Transformation zu senken und schneller in Richtung Netto-Null voranzukommen, bietet die Kreislaufwirtschaft. Laut dem Think-Tank Agora, hinter dem unter anderem die European Climate Foundation steht, könnte eine bessere Nutzung von Werkstoffen allein in Europa bis 2030 etwa 70 Millionen Tonnen CO2 einsparen, bis 2050 sogar bis zu 239 Millionen Tonnen. Das entspricht bis zu einem Drittel der nötigen industriellen Emissionsreduktion in der Europäischen Union. Das Recycling von Stahl-, Aluminium- oder Polyethylen-Produkten reduziert je nach Verfahren den Energiebedarf im Vergleich zur heutigen Primärproduktion um einen Faktor zwischen 5 und 12. Mit Blick auf die Zukunft würde eine Kreislaufwirtschaft bei diesen Stoffen auch den Gesamtbedarf an erneuerbarem Strom merklich verringern – und zwar um 400 Terawattstunden jährlich; das entspricht dem Output von 60.000 Windrädern.
„In zehn Jahren werden wir Abfall nicht mehr als Abfall, sondern als Rohstoff sehen.“
Julia Binder
Professorin für nachhaltige Innovation und Unternehmenstransformation
„In zehn Jahren werden wir Abfall nicht mehr als Abfall, sondern als Rohstoff sehen“, ist sich Julia Binder sicher, Professorin für nachhaltige Innovation und Unternehmenstransformation an der privaten Wirtschaftshochschule IMD im schweizerischen Lausanne. Das mache auch Lieferketten stabiler und wirke der zunehmenden Rohstoffknappheit entgegen. Dazu kommt: Eine Kreislaufwirtschaft lässt Kunden, Lieferanten, Unternehmen und Forschung enger zusammenrücken, weil gangbare Lösungen nur gemeinsam entwickelt werden können. „Führungskräfte bevorzugen heute Kooperation und Transparenz gegenüber dem Wettbewerb und betrachten die Dekarbonisierung zunehmend als eine Win-Win-Lösung, die nicht zwangsläufig mit zusätzlichen Kosten verbunden ist“, urteilt das World Economic Forum.
Energiewende, Energie- und Ressourceneffizienz sowie Kreislaufwirtschaft als Kernelemente eines nachhaltigen Wirtschaftsmodells versprechen darüber hinaus stärkere Unabhängigkeit von globalen Erschütterungen und damit langfristige Wettbewerbsfähigkeit. „Wir werden in den kommenden Jahren einen kompletten Wandel der Wirtschaft erleben“, ist etwa Gauri Singh überzeugt, die stellvertretende Generaldirektorin der IRENA. „Energieeffizienz in Verbindung mit Erneuerbaren macht Länder unabhängiger von Importen und entkoppelt Volkswirtschaften von volatilen internationalen Ölpreisen.“
Vom Nachteil zum Vorteil
Damit die grüne Wende wirklich gelingt, braucht es allerdings auch den richtigen politischen und wirtschaftspolitischen Rahmen. Immer wieder als ideales Instrument wird ein weltweit einheitlicher Mindestpreis für CO2 diskutiert, um entsprechende Anreize für Akteure zu setzen und die klimapolitischen Anstrengungen zu koordinieren. Welche Hebelwirkung ein solcher Schritt haben könnte, zeigt der Blick nach Europa: Diejenigen Sektoren der europäischen Wirtschaft, die mit CO2-Zertifikaten handeln, haben ihre Emissionen in den letzten Jahren deutlich stärker reduziert als andere Bereiche. Doch auch Subventionen der öffentlichen Hand sind nötig, um Schlüsseltechnologien wie Wasserstoff zum Durchbruch zu verhelfen, sei es, um neue Verfahren zur Marktreife zu bringen oder grundlegende Infrastrukturen aufzubauen. Schließlich muss sichergestellt werden, dass erneuerbare Energien so schnell wie möglich in den benötigten riesigen Mengen günstig zur Verfügung stehen und so auch grüner Wasserstoff wettbewerbsfähig wird.
Unabhängig von der Politik erkennen immer mehr Unternehmen Nachhaltigkeit als Chance für ihr eigenes Geschäft. Damit scheint sich die Vision des Öko-Pioniers Bertrand Piccard zu verwirklichen, der 2016 die Erde in einem Solarflugzeug umrundet hat – nur mit der Kraft der Sonne, ohne fossile Energien. Er sieht das Übereinkommen von Paris auch als „Startschuss für eine Revolution der sauberen Technologien“. Nach seinem Rekordflug rief er eine Allianz ins Leben, um 1.000 rentable Lösungen für den Umwelt- und Klimaschutz zu fördern. „Bisher denken wir, es zerstört die wirtschaftliche Entwicklung, wenn wir die Umwelt schützen. Ich wollte zeigen, dass es ein ökonomischer Vorteil ist, die Umwelt zu schützen, energieeffizient zu sein“, sagt der Gründer. Inzwischen sind es bereits über 1.500 Lösungen – „Geräte, Materialien, Prozesse oder Systeme, die den Menschen und dem Planeten nutzen“. Piccard ist überzeugt: „Wenn wir die Ökologie in den Mittelpunkt der ökonomischen Entwicklung stellen, werden wir viel erfolgreicher sein!“
Veröffentlicht am 23.10.2023, zuletzt aktualisiert am 27.10.2023.
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