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Unternehmen müssen sich ständig an ihre Umwelt anpassen, Krisen meistern und Chancen nutzen. Eine Survival-Tour, bei der Firmen heute deutlich früher die Luft ausgeht als noch vor einigen Jahrzehnten. Was machen Unternehmen richtig, denen es gelingt, auf langer Strecke erfolgreich zu sein? Oder was machen sie anders? Ein Blick ins Überlebenshandbuch.

Text: Sonja Hausmanns
Illustration: Anton Hallmann
Graphic of man in green forest

In der Liste der der ältesten Unternehmen weltweit belegen einige japanische Unternehmen die Spitzenplätze. Darunter ist das Kurhaus Hōshi, das eine Flugstunde von Tokio entfernt idyllisch in den Bergen liegt und vor nicht weniger als 1.300 Jahren gegründet wurde. Bekannt ist das Hotel für die heiße Quelle in der Nähe, die so ziemlich alles heilen soll – von Schuppenflechte über Bluthochdruck bis Weltschmerz. Diese Quelle zu schützen, ist die wichtigste Aufgabe der Familie Hōshi, die das Haus seit seiner Gründung im Jahr 718 führt. „Dafür müssen wir einiges ertragen und alles überstehen“, heißt es in einem 2014 erschienenen Dokumentarfilm.

Diese Mission klingt nach Schweiß und Tränen und könnte erklären, warum viele Unternehmen weltweit deutlich früher aufgeben als Hōshi: Fehlt es ihnen an Leidensfähigkeit? Immerhin verschwinden Firmen in den USA im Schnitt nach zehn Jahren vom Markt. Sind sie börsennotiert, halten sie zwar länger durch, aber auch hier sinkt die Lebensdauer: Unternehmen im wichtigen US-Börsenindex S&P 500 existierten Ende der 1950er-Jahre durchschnittlich 60 Jahre. Heute sind es laut der Unternehmensberatung Innosight weniger als 20 Jahre. Europaweit lässt sich der gleiche Trend beobachten: In Deutschland beispielsweise erreichen heute weniger als zwei Prozent aller Unternehmen ein Alter von 100 Jahren oder mehr. Im Mittel werden sie acht bis zehn Jahre alt, bevor sie aufgeben, fusionieren oder übernommen werden. Das ergab eine Wirtschaftsanalyse von Creditreform 2019.

Dass Unternehmen heute früher die Luft ausgeht, kann auch als Vitalzeichen einer funktionierenden Wirtschaft gedeutet werden. Wenn alte Unternehmen sterben, weil sie innovativen Neuankömmlingen nichts entgegenzusetzen haben, ist das wirtschaftlich gesehen ein Gewinn. Das wissen wir, seitdem der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter 1942 die „schöpferische Zerstörung“ als ein zentrales Prinzip darstellte. Problematisch wird es allerdings, wenn zu viele Etablierte vom Markt verschwinden und damit dauerhaft Kapital und Know-how verloren gehen. Von einer Übersterblichkeit bei Unternehmen spricht der ehemalige Shell-Manager Arie de Geus in seinem Buch „Jenseits der Ökonomie“ (im Original „The Living Company“). Die Ursachen für das vorzeitige Aus sieht er in immer schneller drehenden Kapital- und Innovationszyklen, aber auch Wirtschaftsflauten und Missmanagement spielen eine große Rolle – und das über alle Branchen hinweg.

Wenn die Kriterien des Scheiterns unabhängig vom Geschäftsmodell sind, sollte das auch für die Erfolgsfaktoren gelten. Es lohnt sich also, genau hinzuschauen: Welchen Weg gehen langlebige Unternehmen? Und welche besonderen Werkzeuge haben sie im Marschgepäck?

FESTES ZIEL – FLEXIBLE ROUTE

So wie das Hotel Hōshi stammen eine Reihe sehr alter Unternehmen im Kern aus dem lokalen Gastgewerbe: Brauereien, Weinkellereien oder Käsereien, die in ihrer regionalen Nische überdauert haben und deren Geschäftsmodell seit Jahrhunderten gleichgeblieben ist. Der Blick auf international agierende Player mit langer Geschichte zeigt zugleich, dass es auch anders geht: Das schwedische Unternehmen Stora Enso beispielsweise gilt als die älteste Aktiengesellschaft der Welt und wurde vor rund 700 Jahren als Kupfermine gegründet. Heute ist Stora Enso ein bedeutender Hersteller von Papier, Zellstoff und Chemikalien. Und Mitsubishi, inzwischen Japans Vorzeigekonzern in Sachen Energie, Baustoffe und Fahrzeugbau, war bei seiner Gründung 1870 ein Schifffahrtsunternehmen. Laut Arie de Geus hat jedes der von ihm untersuchten 27 langlebigen Großunternehmen im Laufe der Zeit mindestens einmal sein Portfolio komplett umgebaut. „Solche Unternehmen sind bereit, Vermögen zu vernichten, um zu überleben. Für sie sind Vermögen – und Gewinne – wie Sauerstoff: lebensnotwendig, aber nicht der Sinn des Lebens“, heißt es in seinem Buch. Ebenso wichtig wie Ausdauer ist demnach Flexibilität. Und die Bereitschaft der Eigentümer, diese langfristige Weiterentwicklung zu finanzieren.

Sich neu erfinden, um zu bleiben: Auf dieses Erfolgsrezept setzt auch das Unternehmen Haniel aus dem Ruhrgebiet. Vom kleinen Duisburger Kolonialwarenhändler hat es sich zunächst zum weltweit agierenden Montankonzern entwickelt – um dem Portfolio dann Mitte der 1960er-Jahre durch den Einstieg beim Handelsriesen Metro einen völlig neuen Dreh zu geben. Heute positioniert sich Haniel als Portfoliogesellschaft und investiert mit dem Ziel, „enkelfähig“ zu sein, in nachhaltige Geschäftsmodelle. „Unser Vorteil war immer, dass wir nicht dem Wahnsinn unterliegen, in 10 Quartalszahlen zu denken, wie viele Aktienunternehmen“, sagt Jutta Stolle, die bei Haniel seit mehr als 30 Jahren als Bindeglied zwischen der weit verzweigten Inhaberfamilie und dem Unternehmen fungiert. Sie bescheinigt Haniel großes Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, auf kurzfristige Gewinne im Sinne des langfristigen Erfolgs zu verzichten. „Veränderung ist Teil der DNA von Haniel und ich kenne kein anderes Familienunternehmen, das dabei so konsequent ist.“ Natürlich gebe es bei Haniel auch Mahner und Zweifler, deren Stimmen aus gutem Grund gehört werden. Stolle erinnert beispielsweise an die 1990er-Jahre, als nüchterne Zahlenexperten verhindert hatten, dass Haniel in die New Economy – und damit in eine Blase – investiert.

„Solche [langlebigen] Unternehmen sind bereit, Vermögen zu vernichten, um zu überleben. Für sie sind Vermögen – und Gewinne – wie Sauerstoff: lebensnotwendig, aber nicht der Sinn des Lebens.“

Arie de Geus,

Autor „Jenseits der Ökonomie“

MIT BEIDEN HÄNDEN ABSICHERN

Auch das ist typisch für langlebige Unternehmen: Sie sind veränderungsbereit, aber der Wandel ist niemals Selbstzweck. Erfolgreiche Firmen sind radikal traditionell, mit einem stabilen Kern, aber einem disruptiven Rand, bescheinigt eine Harvard Studie von 2018. Weil sie das Risiko eher scheuen, sichern sich diese Unternehmen ab, indem sie beidhändig agieren. „Ambidextrie“ lautet das Stichwort. Es geht darum, das Bestehende zu optimieren und gleichzeitig intensiv an zukünftigen Produkten und Geschäftsmodellen zu arbeiten.

Bewährt hat sich dieses Modell unter anderem in der Pharmaindustrie. „Viele unserer Wirkstoffe sind 100 Jahre alt und immer noch das Mittel der Wahl, Beispiel Aspirin. Gleichzeitig gibt es viele Indikationen, für die wir laufend neue Arzneimittel entwickeln“, erläutert Dr. Hans-Georg Feldmeier, Vorsitzender des Bundesverbandes der Pharmaindustrie in Deutschland. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung gelten als Seismograf für die Innovationskraft von Unternehmen, und die Pharmaindustrie ist bei solchen Budgets seit jeher Spitzenreiter. Was zählt ist jedoch die Erfolgsquote: Welche Rendite werfen die Innovationen über die Jahre ab? Feldmeier formuliert einen holistischen Ansatz: „Schon bei der Entwicklung von Pharmaprodukten kommt es darauf an, die Effizienz der Produktion zu berücksichtigen. Deshalb lege ich Wert darauf, von Anfang an Verfahrenstechniker im Team zu haben, um die Machbarkeit zu gewährleisten.“

Etabliertes bewahren und Neues versuchen – weil die Branche dies nicht als Widerspruch erlebt, ist sie neuen Akteuren und Ideen gegenüber offen. „Wir haben in den vergangenen zehn Jahren sehr viele neue Player begrüßt, die mit hochinnovativen Produkten neue Nischen belegt haben“, sagt Feldmeier und nennt als prominentes Beispiel Biontech mit dem weltweit ersten zugelassenen Corona-Impfstoff. „Biontech war aber nicht zuletzt erfolgreich, weil man die Partnerschaft mit dem etablierten Unternehmen Pfizer eingegangen ist. Hinzu kam ein Netzwerk mit erfahrenen Unternehmen in Europa, die dann die Produktion übernommen haben“, betont der Verbandsvorsitzende.

„Wir stehen als Unternehmen alle vor den gleichen Herausforderungen und es ist immens wichtig, dass wir miteinander daran arbeiten, Lösungen zu finden.“

Dr Patrick Wouters,

Vizepräsident European Hygienic Engineering & Design Group

1300

1.300 Jahre: So alt ist das japanische Kurhaus Hōshi. Es gehört damit zu den fünf langlebigsten Unternehmen der Welt.

VERTRAUEN INS TEAM

Netzwerke sind nicht nur in der Pharmabranche ein Erfolgsfaktor. Angesichts der Fülle an Herausforderungen bündeln viele Unternehmen zunehmend ihre Kräfte: Mit der Pandemie brachen globale Lieferketten zusammen, die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zwingt ganze Branchen in die Knie, und die Klimapolitik erhöht den Innovationsdruck und schmälert die Planungssicherheit. „Wir stehen als Unternehmen alle vor den gleichen Herausforderungen und es ist immens wichtig, dass wir miteinander daran arbeiten, Lösungen zu finden“, sagt Dr. Patrick Wouters, Vizepräsident des Verbandes EHEDG (European Hygienic Engineering & Design Group), der weltweit Lebensmittelproduzenten, verarbeitende Unternehmen, Anlagenbauer und Forschungseinrichtungen miteinander vernetzt.

„Für uns ist dieser Austausch extrem wertvoll, denn er hilft uns, das Marktumfeld und aktuelle Trends besser zu verstehen“, betont Wouters, der zudem als Global Hygienic Design Lead für den Lebensmittelproduzenten und Rohstoffhändler Cargill arbeitet. „Für Unternehmen wäre es zu kurz gegriffen, nur auf die eigenen Produkte und Produktionsabläufe zu schauen; stattdessen müssen wir die gesamte Lieferkette im Blick haben, lernen – und bei Bedarf schnell reagieren.“ Anpassungsfähig zu bleiben ist für den erfahrenen Manager angesichts der vielfältigen Krisen die wichtigste Aufgabe derzeit. Eine wichtige Rolle spiele auch das Vertrauen. „Ob gegenüber unseren Mitarbeitenden, in der Kommunikation mit Kunden oder der Zusammenarbeit mit Partnern: Ehrlichkeit und Transparenz halte ich für entscheidende Faktoren für den langfristigen Erfolg“, sagt Wouters, dessen Arbeitgeber Cargill sich immerhin schon seit 150 Jahren als Familienunternehmen am Markt behauptet.

 

AUSDAUER TRAINIEREN

Sich rechtzeitig an das Umfeld anpassen, keinen Quartalszahlen hinterherrennen, in Netzwerken denken und fest dem eigenen Wertekompass folgen: Am Ende ist die Erfolgsformel langlebiger Unternehmen ebenso einfach wie einleuchtend. Es braucht allerdings einen langen Atem, um angesichts von Kostendruck, Fachkräftemangel und Krisen-Häufung auf dem rechten Weg zu bleiben, und das Tag für Tag, Jahr für Jahr. Die Ausdauer wird belohnt, wie eine McKinsey-Studie von 2017 belegt. Demnach übertreffen Unternehmen, die entschlossen an einer langfristigen Denkweise festhalten, ihre Branchenkollegen beim Umsatz um 47 Prozent. Beim Gewinn sind es immerhin 36 Prozent. Am Ende können langlebige Unternehmen vielleicht auch auf den Lindy-Effekt hoffen. Der besagt, dass die Sterberate von Technologien, Unternehmen oder Ideen sinkt, je länger sie schon existieren. Gutes bleibt – wie die Heilquelle in Hōshi.