„Standards senken Barrieren und Kosten“

Daten helfen der Industrie, die Produktion zu optimieren. Für die Transformation zu einer nachhaltigen Energieversorgung sind sie sogar essenziell. Doch es braucht mehr Standardisierung, meinen Frank Stührenberg, CEO von Phoenix Contact, und Endress+Hauser CEO Matthias Altendorf im Gespräch.

Fragen: Laurin Paschek
Fotografie: Andreas Zimmermann
Altendorf_Stuehrenberg

Herr Stührenberg, Phoenix Contact hat 2021 starkes Wachstum verzeichnet, auch 2022 ist ein deutliches Plus zu erwarten. Wie schaffen Sie das in diesen Zeiten?

Stührenberg: Tatsächlich hatten wir wohl noch nie mehr als 20 Prozent Wachstum in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist das schon bemerkenswert. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir in der Elektrotechnik, aber auch in der Verfahrens­technik eine noch lange andauernde, substanzielle Wachstumsphase sehen.

 

Was ist der Grund dafür?

Stührenberg: Einige Entwicklungen kommen jetzt zu­sammen und verstärken sich gegenseitig. Eine davon ist die Dekarbonisierung und damit einhergehend die Elektri­fizierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Für eine fossil­freie Welt brauchen wir genaue Daten über Energiever­bräuche, müssen wir Verkehr und Energie, Gebäude und Industrie miteinander vernetzen. Eine andere Entwicklung ist die demografisch bedingte Verknappung am Arbeits­markt. Mehr Automatisierung hilft gegen den Mangel an Fachkräften. Ein dritter Trend ist der zu mehr Resilienz. Dafür braucht es Redundanz, und das führt zu neuen Fabri­ken, zum Beispiel außerhalb Chinas, die wir mit Technik beliefern.

 

Herr Altendorf, auch Endress+Hauser ist zuletzt kräftig gewachsen. Spielen Digitalisierung und Vernetzung dabei eine Rolle?

Altendorf: Wir digitalisieren bereits seit zwei Jahrzehnten und verstehen darunter die Vernetzung der verschiedenen Datenquellen in der verfahrenstechnischen Industrie. Unsere Sensoren erzeugen Daten, die wir zur Verfügung stellen und mit Informationen anreichern, damit auf Grundlage dieses Wissens regelbasierte Entscheidungen getroffen werden können. Was neu hinzukommt, ist die Möglichkeit, dieses Wissen allen Teilnehmern eines Netz­werks anzubieten, die daraus einen Nutzen ziehen können. Dabei gilt: Je mehr Teilnehmer und Dateninhalte im Netz­werk sind, umso mehr Wert kann daraus gewonnen werden.

 

Wie ist diese neue Situation entstanden?

Altendorf: Ein Grund ist, dass immer mehr mobile Geräte zur Verfügung stehen. Ein weiterer ist die Anbindung an die Cloud. Die Client­Server­Strukturen der Vergangenheit waren nicht besonders gut zur Vernetzung geeignet. Mit Cloud­Services können wir die Daten einfach bereitstellen. Dadurch steigen die Datenmengen, und Algorithmen werden wichtig, die die Daten verarbeiten und auf einen Nutzen herunterbrechen. Das führt mich zum dritten Grund: In den letzten Jahren sind die Kosten für Rechen­leistung und Bandbreite dramatisch gesunken. All das treibt die Digitalisierung an. Im ersten Halbjahr 2022 ist unser Projektvolumen in diesem Bereich um ein Drittel gestiegen.

„Eine maximal individualisierte ­Gesellschaft kann nicht gut mit Krisen umgehen – das gelingt nur der Gemeinschaft. Und genau das ist die Stärke von Familienunternehmen: die kollektive Bindungskraft.“

Matthias Altendorf

CEO Endress+Hauser

Altendorf

Welche Chancen erschließen sich Ihren Kunden dadurch?

Altendorf: Wir liefern unseren Kunden im Jahr fast drei Millionen Sensoren. Schon bei mehr als zehn Prozent davon kennen wir den digitalen Zwilling. Dadurch können unsere Kunden vorausschauender planen und ihre Anlagen robuster betreiben. Es gibt weniger unvorhergesehene Ausfälle. Und unsere Kunden können mit weniger Personal mehr Geräte unterhalten und so ihre Produktivität erhöhen.

 

Herr Stührenberg, schauen wir auf Ihre Kunden und Ihr Produktangebot. Wie hat sich dieses in Sachen Digitalisierung entwickelt?

Stührenberg: Unser Portfolio hat sich immer sehr orga-nisch entwickelt. Ursprünglich kommt Phoenix Contact aus der Verbindungstechnik. Zu den anfangs recht einfachen Komponenten haben wir erste elektronische Funktionen hinzugefügt wie Relais- oder LED-Schaltungen. Über diesen evolutionären Weg sind wir dann in die Automatisierung hineingekommen, die wir heute entlang eines roten Fadens weiterentwickeln. In der aktuellen und wohl auch der kommenden Dekade wird die ganzheitliche Transformation unserer Energiewelt eine wesentliche Rolle spielen.

 

Was genau verstehen Sie darunter?

Stührenberg: Es geht nicht nur darum, ein Kohlekraftwerk durch Windparks zu ersetzen. Wir müssen darüber hi-naus alle Sektoren elektrifizieren, digitalisieren, automa-tisieren und vernetzen. Für Phoenix Contact wird diese Erkenntnis handlungsleitend sein. Unser Unternehmen wird sich dadurch weiter transformieren. Die digitale Vernetzung und der Austausch von Daten sind dabei zentral, etwa beim Laden eines E-Fahrzeugs oder bei Vehicle-to-Grid-Speicherlösungen, bei welchen Auto und Ladesystem mit dem Stromnetz kommunizieren.

Altendorf: Die Elektrifizierung, die Herr Stührenberg beschreibt, treibt die Dekarbonisierung in allen Sektoren voran. Und sie hat einen Zwilling in der Wasserstoff-Ökonomie. Denn wir müssen den Strom aus erneuerbaren Quellen auch speichern. Mit Batterien allein ist das nicht zu stemmen, auch nicht mit Pumpspeicherwerken. Wasser-stoff ist ein Medium, mit dem wir Energie jederzeit wieder in Strom umwandeln können. Wir können daraus auch Kunststoffe, Düngemittel und andere wichtige Produkte herstellen.

Stührenberg: Strom in Form von Wasserstoff zu speichern hat Nachteile bei der Effizienz. Aber diese können wir überwinden, wenn wir erneuerbare Energie im Überfluss produzieren. Im Nahen Osten sehen wir derzeit einige vielversprechende Ansätze. Dabei lassen sich Infrastruk-turen und Techniken nutzen, die für Öl und Gas bereits zur Verfügung stehen.

„Der entscheidende Schritt in der Globalisierung war der standardisierte Container. Dadurch sind die Aus­tauschaufwände im Warenverkehr drastisch gesunken; dahin müssen wir auch beim Datenaustausch kommen.“

Frank Stührenberg

CEO von Phoenix Contact

Stührenberg

DIE „ALL ELECTRIC SOCIETY“ VOR AUGEN

Frank Stührenberg, Jahrgang 1963, studierte Wirtschaftswissen­schaften mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik an der Uni­versität Paderborn. Seine Laufbahn begann er 1989 bei Nixdorf Computer; 1992 wechselte er zu Phoenix Contact. Dort wurde er 2001 in die Geschäftsführung berufen und 2015 zum CEO er­nannt. Phoenix Contact ist weltweiter Marktführer für Kompo­nenten, Systeme und Lösungen in der Elektrotechnik, Elektronik und Automation. Des Familienunternehmen mit Sitz im west­fälischen Blomberg beschäftigt weltweit über 20.000 Menschen und erzielte 2021 rund drei Milliarden Euro Umsatz. Die Ent­wicklung von Phoenix Contact treibt der CEO mit dem Zukunftsbild einer „All Electric Society“ voran: Dabei soll die umfassende Elektrifizierung, Vernetzung und Automatisierung aller Sektoren von Industrie und Infrastruktur es ermöglichen, Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung zu verbinden. Neben seiner Arbeit ist Frank Stührenberg ehrenamtliches Vorstandsmitglied und Schatzmeister des Verbands der Elektro­ und Digitalindustrie ZVEI und Mitglied im Kuratorium der deutschen Stiftung KlimaWirtschaft.

Welche Erfahrungen haben Sie in der eigenen Produktion mit Digital-Factory-Lösungen bereits gesammelt?

Stührenberg: In unserer Pilotanlage – einer Elektronik­fabrik – haben wir gesehen, dass die Produktion nicht automatisch durch einen möglichst hohen Grad der Digi­talisierung besser wird, sondern durch möglichst schlanke und effiziente Produktionsprozesse. Um die zu entwickeln, braucht es Prozessdaten in Echtzeit. Nur so weiß man, ob ein veränderter Prozessschritt den gewünschten Erfolg bringt. Es nützt allerdings nichts, diese Daten einfach nur einzusammeln. Wir beschäftigen uns deswegen auch sehr intensiv mit dem Thema Data Analytics, um zu erkennen, wenn ein bestimmter Prozess in die falsche Richtung läuft.

 

Was erwarten die Anlagenbetreiber von Endress+Hauser, wenn es um die Digitalisierung geht?

Altendorf: Da geht es vor allem um drei Faktoren. Der erste ist die Sicherheit. Wenn die Messtechnik in verfahrens­technischen Prozessen nicht zuverlässig funktioniert, kom­men Menschen, Maschinen und Umwelt in Gefahr. Die Messtechnik muss deswegen funktional sicher und vor Cyberangriffen geschützt sein. Der zweite Faktor ist das Domänenwissen zur Verbindung von IT und OT, von Informations­ und Betriebstechnik. Dies ist vor allem für Betrieb und Wartung wichtig. Wenn ein Messgerät kritisch für einen Prozess und zugleich schwer zu be­schaffen ist, müssen wir das den Betreibern rechtzeitig sagen. Möglich macht dies der digitale Zwilling. Der dritte Faktor ist die Kommunikation zwischen den Kompo­nenten, die Interoperabilität. Die Geräte müssen eine Sprache sprechen.

Stührenberg: Der entscheidende Schritt in der Globalisie­rung war der standardisierte Container: acht Fuß breit, achteinhalb Fuß hoch und 20 oder 40 Fuß lang. Dadurch sind die individuellen Austauschaufwände im Waren­verkehr drastisch gesunken; dahin müssen wir auch beim Datenaustausch kommen.

Altendorf: Verbände, Partnerschaften und Allianzen spielen dabei eine wichtige Rolle. Wir unterstützen diese Aktivitäten nach Kräften. Denn offene Standards senken Barrieren und Kosten – und sie helfen, sich auf das zu kon­zentrieren, was wirklich einen Nutzen stiftet.

Corona ist noch nicht überwunden, wir sehen hohe Inflation und geopolitische Unsicherheiten. Durch den Krieg in der Ukraine muss Europa Energiemangel fürchten, wir stehen am Rande einer Rezession. Wie begegnen Sie dieser Situation?

Stührenberg: Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal eine solche Anhäufung von Krisen erleben würden. Schon 2019 gab es in unserer Industrie Gegenwind, 2020 kam die Pandemie hinzu. 2022 mussten wir unsere Länder­gesellschaft in Russland aufgeben, und wir wissen nicht, was sonst noch auf uns zukommt. Zugleich erlebt Phoenix Contact seit vier Jahren den größten Wachstumsschub der Firmengeschichte. Wir sind wie Endress+Hauser ein Familienunternehmen, das langfristig denkt, und haben in diesem Zeitraum rund 750 Millionen Euro investiert. Nicht zuletzt sind wir alle ein wenig resilienter geworden. Wir stellen unsere Lieferketten robuster auf und lassen uns nicht von etwas Gegenwind vom Weg abbringen. Die digitale Vernetzung wird weiter voranschreiten, die Welt der erneuerbaren Energien wird kommen. All das stimmt mich zuversichtlich.

Altendorf: In jeder Krise liegt auch eine Chance. So dramatisch die Herausforderungen bei den Lieferketten und der Energieversorgung sind, so katastrophal der Krieg in der Ukraine ist – wir haben damit zugleich die Chance für eine neue Ordnung. Zum Beispiel hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung. Oder in der Politik für eine freie demokratische Welt mit gemeinsamen Werten und Regeln. Die Vergangenheit hat gezeigt: Eine maximal individualisierte Gesellschaft kann nicht gut mit Krisen umgehen – das gelingt nur der Gemeinschaft. Und genau das ist die Stärke von Familienunternehmen: die kollektive Bindungskraft. Das wird uns helfen, Krisen als Chancen zu nutzen.