Schneller am Start

Die Welt wird komplexer. Deshalb öffnet sich Endress+Hauser gezielt nach außen, um gemeinsam mit anderen zu Innovatio­nen zu kommen. Auch in Sachen KI wurde so schon rasant Neuland erschlossen.

Text: Christine Böhringer
Fotografie: Christoph Fein
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Wenn irgendwo in Mittel­europa überraschend ein Fluss über die Ufer tritt, klingelt anderntags bei Florian Falger häufig das Telefon: Der Market Mana­ ger hat bei Endress+Hauser das Frühwarnsystem Netilion Flood Monitoring mitentwickelt. Mit Hilfe von Sensoren und Künstlicher Intelligenz kann es voraus­ sagen, ob, wann und wo ein Hochwasser droht. „So können Verantwortliche rechtzeitig die richtigen Entscheidungen treffen und beispielsweise Schutz­ maßnahmen einleiten, um Schäden zu verhindern“, sagt der Wirtschaftsingenieur. Das System ist in seiner Form einmalig – und das ist nicht der einzige Super­ lativ: Vom Projekt­ bis zum Verkaufsstart verging gerade einmal ein Jahr.

Zwölf Monate sind für die Entwicklung eines fertigen Produkts allgemein sehr schnell. Bei einer Lösung, die Sensoren mit KI-­basierter Software kombiniert, be­ deutet dies aber geradezu Lichtgeschwindigkeit. „Dass es so rasant ging, haben wir einer agilen neuen Ab­teilung und unserem Open­Innovation­Ansatz zu ver­ danken“, sagt Dr. Simon Zühlke, Strategieexperte im Kompetenzzentrum für Füllstands­ und Druckmesstechnik von Endress+Hauser. Open Innovation heißt: Das Unternehmen öffnet sich gezielt nach außen, um mit Partnern an Innovationen zu arbeiten. „Wir leben heute in einer dynamischen Welt, in der nie­mand mehr alles alleine schaffen kann. Wenn man Kompetenzen bündelt und Wissen vereint, lassen sich gemeinsam neue Felder schneller erschließen“, erklärt der Verfahrenstechniker.

Vor vier Jahren besuchte Simon Zühlke deshalb eine Gründermesse der Ruhr­Universität Bochum – und stieß dort auf Okeanos, das Start­up zweier Hydro­ logen, die die Wasserwirtschaft mit datengetriebenen Ansätzen digitalisieren wollen, auch mit Hilfe von KI. „Schon nach wenigen Minuten war klar: Das ist ein perfekter Match“, sagt Simon Zühlke. Endress+Hauser hatte zu dieser Zeit den weltweit ersten autarken 80­-Gigahertz-­Radarsensor für die Füllstandsüberwachung von Kunststofftanks auf den Markt gebracht; dieser schickt seine Daten drahtlos in die Cloud. „Wir suchten zum einen für den batteriebetriebenen Sensor nach neuen Anwendungen, etwa zur Oberflächengewässer-Überwachung an entlegenen Orten. Zum anderen wollten wir mehr aus den Sensordaten machen“, so der Stratege. Umgekehrt war auch Okeanos sofort vom Messtechnikspezialisten angetan. „Endress+Hauser ist sehr gut darin, Daten zu erfas­ sen – und wir sind sehr gut darin, sie zu analysieren“, sagt Okeanos­-Mitgründer Dr. Benjamin Mewes.

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Ein neuer autarker Radarsensor hat den Anstoß gegeben zur Entwicklung des Hochwasserwarnsystems.

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Endress+Hauser Strategieexperte Dr. Simon Zühlke und Market Manager Florian Falger sind die Köpfe hinter der Kooperation mit Okeanos.

Vorhersage statt reiner Messung

Erst tüftelten die Partner daran, mit Messwerten und einem Algorithmus Regenüberlaufbecken zu digitali­sieren. Doch dann kam es 2021 in Deutschland zu einer Hochwasserkatastrophe. „Plötzlich bestand ein großer gesellschaftlicher Bedarf. Wir fragten uns: Könnten wir mit dem Radarsensor und KI nicht die Pegelmessung auf ein neues Level heben und die­se zu einem Hochwasser­Warnsystem für kleine Ge­wässer weiterentwickeln?“, sagt Florian Falger. Die Umsetzung der Idee ging ein neu gegründetes internes Innovationslabor an. „Dort arbeiten wir ab­seits der Standardprozesse mit agilen Methoden an neuen Produkten und Lösungen, nahe an den Kunden und mit viel Freiheit“, sagt Florian Falger.

So traf eine Keimzelle auf ein Start­up und Wissen floss optimal zusammen: Endress+Hauser stellte eigene Füllstandsinstrumente, Bodenfeuchtesensoren seiner Tochterfirma IMKO sowie Niederschlagsmesser bereit, die die nötigen Messwerte liefern, ebenso eine Cloud­Plattform. Okeanos brachte hydrologisches Wissen ein – die Gründer hatten zum Thema Hoch­wasserprognose promoviert – sowie den KI-­Algo­rithmus. Dieser verrechnet die Messwerte mit anderen Daten in der Cloud und macht eine klare Vorhersage; die Anwender müssen keine Zahlen interpretieren. Mit Pilotkunden wurde die KI trainiert. Heute ist das System bereits vielerorts im Einsatz. „Kommunen erhal­ten dadurch bei Hochwassergefahr bis zu 45 Minuten Vorsprung“, sagt Florian Falger. „Und wir wollen noch mehr Vorwarnzeit herausholen.“