Eine Aufgabe für Generationen
Der Weg in die Klimaneutralität stellt die Industrie vor gewaltige Herausforderungen. Wie groß die Aufgabe ist, zeigt das Beispiel der Metallindustrie. Die gute Nachricht: Die notwendigen Technologien sind verfügbar. Wie sie erfolgreich eingesetzt werden können, diskutieren Burkhard Dahmen, CEO des Anlagenbauers SMS group, und Endress+Hauser CEO Matthias Altendorf.
Herr Dahmen, die SMS group zählt zu den führenden Unternehmen im metallurgischen Maschinen- und Anlagenbau. Unter dem Hashtag #turningmetalsgreen will sie Wegbereiter einer CO2-neutralen Metallindustrie sein. Wie kann SMS zur grünen Transformation beitragen?
DAHMEN: Bei der herkömmlichen Erzeugung von Stahl, Aluminium und Kupfer entsteht sehr viel Kohlendioxid. Die Produktion dieser Metalle verursacht etwa zehn Prozent der globalen CO2-Emissionen. Besonders relevant ist die Stahlindustrie. Sie verwendet Kohle, um im Hochofen das Eisen auszuschmelzen und Roheisen zu erzeugen. Weil sich dabei der Kohlenstoff mit dem Sauerstoff aus dem Eisenerz verbindet, entsteht sehr viel CO2. Um das zu ändern, verfolgen wir zwei technologische Ansätze. Erstens ersetzen wir im sogenannten Direktreduktionsverfahren die Kohle durch Wasserstoff oder ein Synthesegas, um das Eisenerz in Roheisen umzuwandeln. Idealerweise wird der dabei eingesetzte Wasserstoff mit regenerativer Energie gewonnen. Das Direktreduktionsverfahren setzen wir für Thyssenkrupp Steel in Duisburg und für das Startup H2 Green Steel in Schweden um. Es ist allerdings ein langer Weg, bis die gesamte Stahlindustrie auf diese Weise dekarbonisiert werden kann.
Deswegen verfolgen Sie noch eine andere Route?
DAHMEN: Genau. Wir können bestehende Anlagen optimieren, indem wir im Hochofenprozess zusätzlich Wasserstoff oder Synthesegas einblasen. Dadurch wird deutlich weniger Kohle benötigt, um das Roheisen zu erzeugen. Entsprechend sinken die CO2-Emissionen um mindestens ein Drittel, perspektivisch sogar um bis zu zwei Drittel. Zugleich verfolgen wir unter #turningmetalsgreen einen ganzheitlichen Ansatz, der auch das Recycling von Metallen und die Verwertung von Reststoffen umfasst. Zwei Beispiele: Mit der Hamburger Firma Aurubis bauen wir in den USA eine Anlage zum Einschmelzen und Aufbereiten von Elektroschrott. Und für Mercedes-Benz entwickelt unser Joint Venture Primobius eine Recyclinganlage für Lithium-Ionen-Batterien, in der wir die Batteriezellen zunächst schreddern und anschließend die wertvollen Rohstoffe wie Cobalt oder Nickel in einem nasschemischen Verfahren extrahieren.
Ihre Beispiele zeigen eine hohe Dynamik. Welche Bedeutung haben Klimaschutz und Nachhaltigkeit als Treiber für Ihr Geschäft?
DAHMEN: Die grüne Transformation ist eine riesige Chance, weil wir über die notwendigen Technologien verfügen. Wir sind bereit, mit unseren Kunden diesen Weg zu gehen. Uns geht es nicht nur darum, unsere Produkte zu verkaufen, sondern wir betreiben auch aktiv Projektentwicklung. Wir sehen uns als langfristigen Partner unserer Kunden, sind mit ihnen im intensiven Austausch und entwickeln die Projekte gemeinsam weiter.
„Die grüne Transformation ist eine riesige Chance. Wir sind bereit, mit unseren Kunden diesen Weg zu gehen.“
Burkhard Dahmen
CEO der SMS group
Herr Altendorf, die grüne Transformation der Prozessindustrie stand im Zentrum des globalen Kundenforums von Endress+Hauser. Wie gehen Ihre Kunden mit dem Thema Nachhaltigkeit um?
ALTENDORF: Prinzipiell sehen sich alle unsere Kunden in der Verantwortung, etwas gegen den menschengemachten Klimawandel zu unternehmen und zugleich die sozialen Folgen zu mildern. Diesen Weg wollen wir mit ihnen gehen. Am Beispiel der Stahlindustrie ist sehr gut sichtbar, wie wir die gesamte Wertschöpfungskette begleiten – vom Abbau des Eisenerzes über den Transport und die Verhüttung bis zum Stahl als Endprodukt. Mit unserer Messtechnik können wir die Potenziale offenlegen, an welcher Stelle und mit welchen Verfahren der CO2-Fußabdruck verkleinert werden kann. Aber der Weg zur CO2-neutralen Stahlproduktion ist auch aus meiner Sicht noch weit. Uns muss klar sein, dass die grüne Transformation nicht innerhalb von Jahren abgeschlossen werden kann, sondern dass sie ein Projekt über mehrere Generationen ist.
Was meinen Sie damit – wie groß ist die Aufgabe?
ALTENDORF: Die Größe der Aufgabe wird an den Mengen deutlich: Weltweit liegt die installierte Kapazität bei etwa 1,9 Milliarden Tonnen Rohstahl; ein einzelnes grünes Werk mit Direktreduktionsanlage produziert jedoch nur rund 2,5 Millionen Tonnen, das entspricht gerade einmal 0,13 Prozent der globalen Menge. Deswegen ist es wichtig, bei Maßnahmen zur CO2-Reduktion die gesamte Wertschöpfungskette einzubeziehen, also neben der eigentlichen Stahlproduktion beispielsweise den Abbau der Rohstoffe und die Transportwege. Außerdem müssen wir uns mit der Erzeugung des Wasserstoffs intensiver auseinandersetzen, denn die auf absehbare Zeit verfügbaren Solar-, Wind- und Wasserkraftanlagen werden nicht annähernd ausreichen, um den Bedarf an erneuerbarem Strom zur Herstellung grünen Wasserstoffs zu decken. Wir können die Erzeugung nicht allein in Europa stemmen, sondern müssen dies auch in anderen Weltregionen tun.
DAHMEN: Hier möchte ich ergänzen, dass wir in Europa unsere Industrie schützen müssen. Wir haben uns in Deutschland und Europa sehr viel ehrgeizigere Klimaschutzziele gesetzt als andere Länder. Deswegen halte ich es für einen zentralen Punkt, dass Einfuhren nach Europa, die nicht unseren Klimaschutzzielen entsprechen, besteuert werden sollten.
ALTENDORF: Das sehe ich auch so. Um Investitionen in grüne Technologien attraktiv zu machen, muss die Politik entsprechende Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb schaffen. Das bedeutet auch, dass wir die europäische Industrie bis zu einem gewissen Punkt schützen.
Welche Rolle spielen Partnerschaften, um Klima- und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen?
ALTENDORF: Wenn man einen langen Weg vor sich hat und hin und wieder ins Risiko gehen muss, braucht man Geschäftspartner, auf die man sich verlassen kann. Unsere Kunden wissen, dass wir ihnen nicht nur Messtechnik verkaufen, sondern dass wir auch in zehn oder fünfzehn Jahren noch am Markt sind und ihnen helfen, ihre Anlagen weiter zu betreiben. Außerdem investieren wir kontinuierlich in die Verbesserung unserer Messtechnik – das ermöglicht den Betreibern, ihre Prozesse und Anlagen weiter zu optimieren. Denn unser Anspruch ist, neue Anforderungen zum Beispiel in der Stahlherstellung oder im Recycling von Metallen zu verstehen und unsere Produkte auf dieses Ziel hin weiterzuentwickeln. Partnerschaften werden außerdem im Zuge der Digitalisierung immer wichtiger, damit die Daten, die unsere Geräte im Feld gewinnen, von den Anlagenbauern in Wissen umgewandelt und an den Anlagenbetreiber weitergegeben werden können.
DAHMEN: Bei der Realisierung von Anlagen brauchen wir Partner, mit denen wir einen langen Weg gemeinsam gehen – von der Anbahnung über die Implementierung bis zum Service vor Ort. Hier braucht es flexible, lösungsorientierte Ansätze, bei denen beide Partner nicht nur ihr eigenes Interesse, sondern vor allem das gemeinsame Ziel vor Augen behalten. Gerade in dieser Hinsicht haben wir mit Endress+Hauser bisher sehr gute Erfahrungen gemacht.
„Wenn man einen langen Weg vor sich hat, braucht man Geschäftspartner, auf die man sich verlassen kann.“
Matthias Altendorf
CEO der Endress+Hauser Gruppe
Wo sehen Sie die Stärken in der Partnerschaft mit Endress+Hauser?
DAHMEN: Als Familienunternehmen arbeiten wir gerne mit anderen Familienunternehmen zusammen, weil wir eine ähnliche Firmenkultur vorfinden, die dem persönlichen, fachlichen Austausch einen hohen Stellenwert einräumt. Außerdem ist Endress+Hauser mit seinem globalen Netzwerk sehr gut aufgestellt. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit der Verfügbarkeit, dem Ad-hoc-Service und der Unterstützung vor Ort auf den Baustellen gemacht. Und nicht zuletzt ist unsere Partnerschaft nachhaltig – wir entwickeln Lösungen gemeinsam mit Endress+Hauser und sehen das Potenzial, unseren Kunden mit neuer Messtechnik in Zukunftsfeldern wie beim Wasserstoff einen Mehrwert zu bieten.
Sowohl Endress+Hauser als auch SMS setzen verstärkt auf Dienstleistungen und Digitalisierung. Wie bedeutsam ist diese Entwicklung?
DAHMEN: In der Partnerschaft mit unseren Kunden sehen wir Dienstleistungen als einen existenziellen Bestandteil. Dank guter Margen trägt das Service-Geschäft wesentlich zu unserem Betriebsergebnis bei. Es ist außerdem deutlich konstanter als das Anlagengeschäft, das zyklischen Schwankungen unterliegt. So kommt kontinuierlicher Umsatz ins Unternehmen – wir können unser Geschäftsvolumen stabilisieren und klarer ausrichten. Schließlich haben wir über unseren Service einen wertvollen Feedbackkanal für die Performance unserer Anlagen im realen Betrieb. Mit den dort gewonnenen Erkenntnissen können wir unsere Technologie- und Produktentwicklung optimieren. Und nicht zuletzt ist unser Service auch ein Akquise-Instrument. Wenn wir in einer Anlage Modernisierungsbedarf feststellen, können wir frühzeitig auf unsere Kunden zugehen und ihnen einen Lösungsvorschlag ausarbeiten.
ALTENDORF: Eine wesentliche Rolle spielen auch digitale Services. Eine prozesstechnische Anlage ist meist eine große Investition, die es zu schützen gilt. Wenn eine Produktionsanlage ungeplant stillsteht, kostet jede Minute des Ausfalls viel Geld. Um das zu vermeiden, ist die Zuverlässigkeit der installierten Messtechnik äußerst wichtig. Dazu muss die Technik in der Lage sein, sich selbst zu überwachen. Aber wir gehen noch einen Schritt weiter: Unser Service kann mithilfe digitaler Tools die Betreiber einer Anlage aktiv warnen, wenn ein Prozess aus dem Ruder zu laufen droht – Stichwort Predictive Maintenance. Solche Angebote wollen wir in Zukunft stärker automatisieren, denn der Fachkräftemangel betrifft auch die Serviceleute. Automatisierung und Digitalisierung ermöglichen es uns, unser Dienstleistungsangebot auszuweiten, obwohl tendenziell weniger Personal zur Verfügung steht.
Sie beide werden in Kürze die Verantwortung in andere Hände geben – Sie, Herr Dahmen, im Oktober 2023 und Sie, Herr Altendorf, zum Jahreswechsel. Was war Ihnen bei der Regelung der Nachfolge besonders wichtig?
DAHMEN: Zum einen finde ich es sehr gut, dass wir mit Jochen Burg einen internen Kandidaten gefunden haben, der die Firmenkultur nicht nur kennt, sondern diese in idealer Weise verkörpert. Das verspricht eine hohe Kontinuität bei den Unternehmenswerten, was gerade in einem Familienunternehmen sehr wichtig ist – auch mit Blick auf Belegschaft und Betriebsrat. Zum anderen steht mein Nachfolger für Kundenorientierung und hat den strategischen Blick, das Unternehmen langfristig auf Kurs zu halten. Das ist uns wichtiger als kurzfristiges Ergebnisdenken.
ALTENDORF: Auch aus meiner Sicht spielt die längerfristige Perspektive eine zentrale Rolle. Mein Nachfolger Peter Selders hat den zeitlichen Spielraum, um gestalten zu können – und da geht es nicht um Jahre, sondern um Dekaden. Außerdem halte ich es für wichtig, dass der neue CEO das menschenzentrierte Weltbild weiterführt, das wir als Familienunternehmen haben. Denn dieses Weltbild vermittelt unseren Mitarbeitenden die Sicherheit, die sie brauchen, um erfolgreich an den großen Herausforderungen der Zukunft zu arbeiten.
Was wird in den nächsten drei bis fünf Jahren die größte Herausforderung für Ihre Nachfolger sein?
DAHMEN: Wir hatten sowohl 2022 als auch 2023 einen rekordhohen Auftragseingang. Die erste Herausforderung besteht also darin, den Auftragsbestand verlässlich und qualitätsoptimiert abzuarbeiten. Zweitens wird es darum gehen, die gerade angesprochene Serviceorientierung unseres Unternehmens weiter auszubauen, um noch mehr Stabilität und Kontinuität ins Geschäft zu bringen. Insgesamt wird die Dekarbonisierung in Bezug auf Produkte, Technologien und Services eine weitere zentrale Herausforderung darstellen. Auf längere Sicht halte ich es für wichtig, die Unternehmensentwicklung der SMS group in den Bereichen Recycling und Wiederverwertung von Reststoffen weiter voranzutreiben, um uns zusätzlich zur metallurgischen Erzeugung ein weiteres Standbein zu verschaffen und gleichzeitig unseren ganzheitlich ökologischen Ansatz zu vervollständigen.
ALTENDORF: Eine Herausforderung sehe ich darin, Endress+Hauser gut durch eine tendenziell schwierige wirtschaftliche Phase zu führen. Aber wenn wir uns auf die richtigen Dinge konzentrieren, können wir auch in einem solchen Umfeld Wachstum generieren. Zum Beispiel wird die Energiewende von einer möglichen Rezession nicht betroffen sein. Auch in anderen Branchen sehe ich Potenzial – etwa in den Life Sciences, wo die Entwicklungszyklen sehr lang sind. Nicht zuletzt werden Digitalisierung und Nachhaltigkeit die Verfahrenstechnik weiter antreiben. Mittelfristig wird sich unsere Branche weiter konsolidieren. Das ist eine Chance für Endress+Hauser, weil wir uns in den vergangenen 70 Jahren sehr vielfältig aufgestellt haben. Wir beherrschen die Komplexität und sind in der Lage, neue Technologien wie Künstliche Intelligenz zu integrieren. Und wir sind investitionsstark. Deswegen blicke ich mit Optimismus in die Zukunft.
Veröffentlicht am 08.11.2023, zuletzt aktualisiert am 10.11.2023.
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