Auf den Geschmack gekommen

ChatGPT hat den Schleier gelüftet: Künstliche Intelligenz ist längst mitten unter uns. Auch in der Prozessindustrie hat KI enormes Potenzial. Doch wie viel davon ist Wunschdenken und was könnte Wirklichkeit werden?

Text: Armin Scheuermann
Illustration: Timo Meyer

Künstliche Intelligenz schmeckt fruchtig, nach Noten von Toffee, Vanille, Birne und Apfel, mit einem leichten Ton von getoasteten Eichenfässern. Die Rede ist von „AI:01 Intelligens“, dem ersten Whisky, bei dem Künstliche Intelligenz die Expertise des Master Blenders ergänzt hat. Die schwedische Brennerei Mackmyra nutzte 2019 erstmals KI, um Whisky aus verschiedenen Fässern so zu mischen, dass die Abfüllung einen möglichst breiten Kundengeschmack trifft. Damit liefert AI:01 einen Vorgeschmack darauf, was KI in der Prozessindustrie künftig leisten kann: Kürzere Entwicklungszeiten für Produkte, eine höhere Effizienz in der Produktion und niedrigere Kosten.

Was im Whisky-Beispiel auch ein bisschen nach Marketing-Gag klingt, wirft ein Schlaglicht auf die Möglichkeiten von KI: In kürzester Zeit eine Vielzahl von Handlungsoptionen und Prozessrouten zu evaluieren bildet die Voraussetzung dafür, Prozessindustrien wie die Petrochemie, die Life Sciences oder die Lebensmittelindustrie möglichst schnell in Richtung Nachhaltigkeit zu transformieren. Dass dies in Zukunft immer wichtiger wird, ist auch der Transformation der Wirtschaft insgesamt geschuldet: In einer künftigen Kreislaufwirtschaft werden Produkte am Ende ihres Lebenszyklus wieder zu Rohstoffen. Dadurch entstehen komplexe Systeme und Abhängigkeiten, die sich mit klassischen Ansätzen der Automation nicht mehr beherrschen lassen. Auch die parallel laufende Energiewende führt dazu, dass Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Gebäudemanagement im Sinne einer Sektorenkopplung miteinander verknüpft und gemeinsam optimiert werden müssen.

Braucht es also eine völlig neue Herangehensweise für die Steuerung von Geschäfts- und Produktionsprozessen? Steht der Prozessindustrie die große KI-Disruption bevor? Und: Was ist überhaupt Künstliche Intelligenz – und wie unterscheidet sie sich von Maschinellem Lernen oder Deep Learning?

VOM ANGSTGEGNER ZUM TOOL

Wahrscheinlich hat fast jede Expertin und jeder Experte eine eigene Vorstellung davon, was mit Künstlicher Intelligenz gemeint ist. Große Übereinstimmung herrscht bei folgender Definition: KI zielt darauf, menschliche Intelligenz durch Maschinen zu simulieren. Mit Fähigkeiten wie Daten aggregieren, Schlussfolgern, Selbstkorrektur und Kreativität nutzt KI unter anderem Maschinelles Lernen – eine Technik, bei der Algorithmen aus historischen Daten neue Werte vorhersagen. Während Maschinelles Lernen häufig auf manuell ausgewählten Merkmalen basiert, können Deep-Learning-Modelle automatisch relevante Merkmale aus den Daten extrahieren. Sie sind damit besonders gut für die Bild- und Spracherkennung sowie die natürliche Sprachverarbeitung geeignet.

Spätestens seit November 2022, dem Monat, in dem der KI-Chatbot ChatGPT öffentlich nutzbar wurde, ist Künstliche Intelligenz in aller Munde. Seither geht in den Chefetagen die Angst um, den KI-Zug zu verpassen – und in der Politik die Furcht vor der entfesselten Künstlichen Intelligenz. „Es gibt nichts, was die Zukunft unserer Enkel mehr verändern wird als technologische Fortschritte wie KI“, sagte der britische Premierminister Rishi Sunak am Rande des ersten internationalen AI Safety Summit. Doch gilt das auch für die konservative Prozessindustrie, in der die Sicherheit von Prozessen über der Innovation steht?

Anbieter von Prozessautomatisierungstechnik stellen aktuell eine wachsende Digitalisierungs-Müdigkeit fest. Die Ursache dafür liegt meist in unklar formulierten Zielen, unerfüllten Nutzenversprechen und dem unterschätzten Aufwand beim Schaffen einer digitalen Infrastruktur in den Anlagen. Um dies zu ändern, haben sich die im internationalen Verband NAMUR organisierten Anwender von Automatisierungstechnik vorgenommen, den Nutzen der Digitalisierung darzustellen – auch den von KI: „Es reicht nicht, über Technologie und einzelne Anwendungsfälle zu reden, wir müssen die Use Cases zu einem Gesamtbild verknüpfen“, sagte NAMUR-Vorstand Michael Pelz auf der jährlichen Hauptsitzung in Neuss.

WAS KANN KÜNSTLICHE INTELLIGENZ?

Künstliche Intelligenz ist die Simulation menschlicher Intelligenzprozesse durch Computersysteme. Zu den spezifischen Anwendungen der KI gehören Expertensysteme, die Verarbeitung natürlicher Sprache, Spracherkennung und Maschinelles Sehen. Zu den kognitiven Fähigkeiten von KI gehören:

  • Lernen: Das Erfassen von Daten und Erstellen von Regeln, wie diese in verwertbare Informationen umgewandelt werden können. Die Regeln, die als Algorithmen bezeichnet werden, geben Computern Schritt-für-Schritt-Anweisungen, wie sie eine bestimmte Aufgabe erledigen sollen.
  • Schlussfolgerungen: Die Wahl des richtigen Algorithmus, um ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen.
  • Selbstkorrektur: Die kontinuierliche Feinabstimmung der Algorithmen, um sicherzustellen, dass sie möglichst genaue Ergebnisse liefern.
  • Kreativität: Dieser Aspekt der KI nutzt Neuronale Netze, regelbasierte Systeme, statistische Methoden und andere KITechniken, um neue Bilder, neue Texte, neue Musik und neue Ideen zu erzeugen.

„KI kann heute noch keine Anlagen steuern und wird dies wahrscheinlich auch in Zukunft nicht können.“

Kai Dadhe,

Vice President Digital Process Technologies bei Evonik

76%

der Führungskräfte sind laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens KPMG überzeugt, dass generative KI Produktionspläne optimieren und Ineffizienzen in Produktionsprozessen aufdecken kann.

Welche Rolle Künstliche Intelligenz darin spielen wird? Offenbar keine disruptive. „KI kann heute noch keine Anlagen steuern und wird dies wahrscheinlich auch in Zukunft nicht können“, resümierte Dr. Kai Dadhe, Vice President Digital Process Technologies bei Evonik, die Erkenntnisse aus dem aktuellen Forschungsprojekt KEEN. In diesem haben Industrieunternehmen und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland über drei Jahre hinweg das technische und wirtschaftliche Potenzial von KI in der Prozessindustrie entlang des Produktlebenszyklus untersucht. Das Projekt zeigte aber auch, dass KI-Methoden durchaus Mehrwerte bieten: Vor allem können sie Anlagenbetreiber bei Entscheidungen unterstützen und Engineering-Aufgaben effizienter machen.

„Die beiden Welten der Informations- und der Betriebstechnologie wachsen zusammen. Das Zielbild ist eine datenzentrierte und softwarebasierte Automatisierung. Hier kann Künstliche Intelligenz wichtige Erkenntnisse liefern, indem sie aus einer sonst unüberschaubaren Menge von Daten neue Einblicke generiert“, bestätigt Dirk Neirinck, Corporate Director Business Development bei Endress+Hauser. Dass die KI-Revolution von oben kommen wird, hält der Stratege jedoch für unwahrscheinlich. Eine Sicht, die auch Hans-Jürgen Huber teilt, Geschäftsführer von Endress+Hauser Digital Solutions Deutschland: „Viel wahrscheinlicher ist, dass KI sukzessive über einzelne Anwendungen Einzug in die Prozessindustrie hält und zu einem Tool im Werkzeugkasten der Digitalisierung und der Prozessautomatisierung werden wird.“

Ein praktisches Beispiel aus der Anlagenplanung ist das Auswerten von Dokumenten, um maschinenlesbare Anlagentopologien und smarte Rohrleitungs- und Instrumentierungspläne anzufertigen. Diese bilden die Grundlage, um einen Digitalen Zwilling realer Anlagen zu erzeugen. Darüber hinaus kann KI dabei helfen, Prozessmodelle einfacher zu erstellen, um leistungsfähige Prozesssimulationen zu ermöglichen. Im Anlagenbetrieb selbst optimiert sie die Produktionsplanung, erkennt Anomalien im Produktionsprozess oder leitet Qualitätsparameter aus Sensordaten ab. Diese ermöglichen weitere Einblicke und Erkenntnisse aus dem Prozess und lassen sich für neue Ansätze in der Prozesssteuerung nutzen.

HILFE FÜR ENTSCHEIDER

KI könnte zudem helfen, das bislang in den Köpfen der Produktionsplaner und Anlagenfahrer gespeicherte Wissen über kausale Zusammenhänge beim Anlagenbetrieb zusammenzuführen und zu bewahren, indem historische und aktuelle Betriebsdaten ausgewertet werden. Überhaupt könnte die Unterstützung von Entscheidungen in komplexen Systemen künftig eine Paradedisziplin der Künstlichen Intelligenz sein – nicht nur im Betrieb von Anlagen, sondern auch in anderen Unternehmensbereichen: Weil Sprachmodelle wie ChatGPT sehr effizient Dokumente auswerten können, lassen sich diese auch im Verkauf oder im Engineering nutzen, um aus Normen, Verträgen oder Ausschreibungen gezielt Antworten auf spezifische Fragestellungen zu generieren. Das Beratungsunternehmen McKinsey schätzt, dass Ingenieure ihre Produktivität um 10 bis 20 Prozent steigern können, wenn sie ihre Informationsrecherche an die KI delegieren.

„Die Revolution wird nicht von oben kommen. KI wird über einzelne Anwendungen sukzessive Einzug in die Prozessindustrie halten.“

Hans-Jürgen Huber,

Geschäftsführer von Endress+Hauser Digital Solutions Deutschland

Doch die Entwicklung von KI-Anwendungen für die Prozessautomation steht noch am Anfang und vor zahlreichen Hürden. Denn KI benötigt Daten – und diese sind insbesondere in der Prozessindustrie häufig nicht in der geforderten Qualität vorhanden oder zugänglich. So produzieren beispielsweise Chemieunternehmen heute zwar bereits so viele Daten wie nie zu vor. Jedoch ist der Datenbestand häufig inkonsistent und es fehlt der Kontext – etwa über die Zusammenhänge in Stoffkreisläufen. Das war auch eine Erkenntnis im KEENProjekt zur Frage, ob eine KI verfahrenstechnische Anlagen steuern kann: Lediglich in Prozesszuständen, die sehr gut mit Daten unterfüttert sind, lieferte die KI einigermaßen brauchbare Ergebnisse. Treten seltene Prozesszustände auf, fehlt ihr das Wissen um verfahrenstechnische Zusammenhänge. Auch deshalb handelt es sich bei KI-Anwendungen in der Prozessindustrie heute meist um Unikate, die sich nicht beliebig skalieren oder von einem Anwendungsfall zum nächsten übertragen lassen.

DATENKONSISTENZ ALS SCHLÜSSEL

In diesem Kontext verändert sich auch die Rolle der Prozessautomatisierung: Deren zentrale Aufgabe wird künftig darin bestehen, die Voraussetzungen für konsistente Datenströme zu schaffen. Noch ist zudem offen, wie die Architektur für einen datenzentrierten Ansatz aussehen soll, die neue Anwendungen auf Basis Künstlicher Intelligenz erlauben wird: Werden KI-Applikationen künftig dezentral in der Cloud, lokal in sogenannten Edge Devices oder gar eingebettet in die Sensor-Elektronik implementiert? Klar ist jedenfalls: Um das Potenzial Künstlicher Intelligenz in allen Szenarien nutzen zu können, braucht es mehr als eine Handvoll KI-Spezialisten in den Unternehmen. Möglichst viele Mitarbeitende sollten sich mit Grundprinzipien, Nutzen und Grenzen der Künstlichen Intelligenz auseinandersetzen. Prominente Beispiele wie ChatGPT oder AI:01 könnten Appetit machen auf die neuen Möglichkeiten in der Prozessautomation.

 

Armin Scheuermann ist Chemieingenieur und Fachjournalist

„Es reicht nicht, über Technologie und einzelne Anwendungsfälle zu reden, wir müssen die Use Cases zu einem Gesamtbild verknüpfen.“

Michael Pelz,

Vorstandsmitglied des Anwenderverbands NAMUR