Dreh-Moment

Wie ein Katalysator hat die Corona-Pandemie Entwicklungen in der Prozessindustrie beschleunigt und verstärkt. Die Digitalisierung macht einen Sprung nach vorn, wirtschaftliche Gewichte verschieben sich. Und ist die akute Krise erst einmal überwunden, drängen die langfristigen Herausforderungen zurück auf die Tagesordnung.

Text: Johannes Winterhagen
Illustration: Aleksandar Savic

Arthur Zhang erinnert sich noch lebhaft an den Moment, als ihm bewusst wurde: Dieses Virus wird sein Geschäft verändern. Es war am 22. Januar 2020, fünf Tage vor dem chinesischen Neujahrsfest, als ihn der für sein Wohnquartier zuständige Arzt anrief. „Stimmt es, dass Sie vorgestern aus Wuhan zurückgekehrt sind?“ Arthur Zhang war tatsächlich für einen Kundentermin in die Stadt gereist – und erhielt deshalb die dringende Empfehlung, zwei Wochen lang zu Hause zu bleiben. Er nutzte die Zeit, um von seiner Wohnung aus seine Firma umzuorganisieren.

Arthur Zhang ist Geschäftsführer der chinesischen Vertriebsgesellschaft von Endress+Hauser. Er trägt Verantwortung für den weltweit größten Einzelmarkt des Prozessautomatisierers. Rund 70 Prozent der über 450 Mitarbeitenden schickte er nach Ausbruch der Pandemie ins Homeoffice; für die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen organisierte er medizinische Schutzmasken. Es folgte ein forderndes Quartal, auch in wirtschaft­licher Hinsicht.

Schub für die Digitalisierung

Ein knappes Jahr später boomt Chinas Wirtschaft wieder. Das Wachstum wäre noch höher ausgefallen, hätten nicht fehlende Schiffscontainer die Exportkapazität begrenzt. Alles also so wie vor der Pandemie? Arthur Zhang, der seit mehr als drei Jahrzehnten in der Prozessindustrie arbeitet, verneint: „In der neuen Normalität leben wir noch immer mit einem hohen Risikobewusstsein.“ Es gibt zwar wieder Treffen mit Kunden und es kommen wieder mehr Mitarbeitende ins Büro – doch digitale Meetings gehören nun zum Alltag.

Der Digitalisierungsschub erfasst alle Bereiche, auch die industrielle Produktion. „Die Pandemie hat deutlich gemacht, welchen Wert intelligente Fabriken haben“, berichtet Arthur Zhang. Viele Kunden investieren in Automatisierung, IT und Kommunikation. „Oft werden die Sensoren zunächst dazu eingesetzt, den Zustand von Anlagen aus der Ferne zu überwachen“, sagt der Geschäftsführer. „Dann merken unsere Kunden, dass sich durch die verfügbaren Daten auch Prozesssicherheit und Produktqualität positiv beeinflussen lassen.“

Diese Einschätzung bestätigt Robert Helminiak vom US-amerikanischen Verband SOCMA (Society of Chemical Manufacturers & Affiliates). „Die Pandemie hat den Bedarf an weiterer Integration von Komponenten und Anlagen im Internet der Dinge, an digitaler Datenverarbeitung und Cyber­sicherheit vergrößert“, sagt der Vice President, dessen Verband mehr als 200 Unternehmen der Spezialchemie vertritt. Noch herrscht allerdings ­keine Einigkeit, wie weit und wie schnell digitalisiert werden muss.

„Die Pandemie hat den Bedarf an Integration im Internet der Dinge, digitaler Datenverarbeitung und Cybersicherheit vergrößert.“

Robert Helminiak Illustration

Robert Helminiak,

Vice President, Society of Chemical Manufacturers and Affiliates

Alte Herausforderungen, neue Lösungen

Dabei könnte die Digitalisierung der Prozessindustrie in den westlichen ­Industrieländern auch in anderen Bereichen helfen – etwa bei der Bewältigung des demografischen Wandels. „Viele der erfahrenen Chemiker und Verfahrenstechniker, die buchstäblich mit dem Ohr an der Anlage die Produktion überwachen, gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand“, gibt Thomas Hucht zu bedenken. Der Geschäftsführer des Ingenieurdienstleisters plantIng, einer Marke der Able Group, meint: „Es fehlt an Nachwuchs. Deshalb wäre es klug, die Erfahrung der Experten digital abzubilden.“

Überhaupt hat Corona wenig an der Bedeutung globaler Megatrends geändert. Allenfalls hat die Krise neue Akzente gesetzt oder für zusätzliche ­Dynamik gesorgt. So sind die CO₂-Emissionen weltweit im vergangenen Jahr zwar um sieben Prozent gesunken – aber mehr als eine Atempause im Kampf gegen die Klimaerwärmung verschafft dies der Menschheit nicht. Für die Chemie, aber auch viele andere Zweige der Prozessindustrie waren 2020 die weltweiten Entscheidungen zum Klimaschutz mindestens so prägend wie die Pandemie. Denn während deren wirtschaftliche Folgen überwiegend kurzfristig sind, bedeutet CO₂-Neutralität häufig einen kompletten Umbau bestehender Produktionsprozesse.

„Der Ersatz fossiler Kohlenwasserstoffe sowie die Einführung einer Kreislaufwirtschaft sind die größten Herausforderungen der Zukunft“, betont Professor Kurt Wagemann. Er ist Geschäftsführer der Dechema, eines Expertennetzwerks der Chemietechnik und Biotechnologie mit Sitz in Frankfurt am Main. Die Europäische Union sieht den Schlüssel zu einer klimaneutralen Industrieproduktion in grünem Wasserstoff und stellte dafür 2020 stra­tegisch die Weichen. Nun sollen Investitionsprogramme nicht nur die Energiewirtschaft nachhaltig umbauen, sondern auch für einen Schub im ­Bereich der Energieeffizienz sorgen und die Elektromobilität auf dem Kontinent voranbringen.

94%

aller Unternehmen litten 2020 laut Euler Hermes an Störungen der Lieferketten.

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New Green Deal

Wenigstens scheinen die großen Wirtschaftsblöcke beim Klimaschutz wieder an einem Strang zu ziehen. Europa verschärfte die Klimaziele für das Jahr 2030, in den USA unterzeichnete Präsident Joe Biden an seinem ersten Amtstag die Rückkehr ins Pariser Klimaschutzabkommen, und der chinesische Staatpräsident Xi Jinping kündigte an, dass sein Land bis 2060 ­klimaneutral werden möchte. Ein Zeichen für eine engere Zusammenarbeit bei den großen Zukunftsaufgaben?

„Die konzertierte Reaktion auf Covid-19 gibt neue Hoffnung, dass internationale Kooperation in Wissenschaft, Technologie und Innovation helfen kann, Lösungen für andere globale ­Herausforderungen zu finden“, schreibt die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) ­voller Optimismus in einem Bericht. Forscher entwickelten in Rekordzeit wirksame Impfstoffe gegen das Coronavirus; Pharmaunternehmen bauten mit hoher Geschwindkeit große Kapazitäten für deren sichere Pro­duktion auf. Die Industrie nicht als Teil des Problems, sondern der Lösung.

Ausgelöst durch zeitweise Lieferengpässe während der Pandemie wird in ­Europa und den USA aber auch kritisch über die globalen Warenströme und Wertschöpfungsketten diskutiert. Laut einer Umfrage von Euler Hermes litten im vergangenen Jahr 94 Prozent aller Unternehmen an Störungen der Lieferketten. In anderen Studien liegen die Werte zwischen 56 und 80 Prozent. Mal lag die Ursache in rapide gestiegener Nachfrage, mal in Produktionsunterbrüchen, mal in geschlossenen Landesgrenzen. Doch klar scheint: Die aufs Äußerste verflochtene Weltwirtschaft hat sich verwundbar gezeigt.

„Die Globalisierung wird weiterhin zunehmen, da gibt es kein Zurück. Und China wird Teil des Systems sein.“

Arthur Zhang,

Geschäftsführer Endress+Hauser China

Arthur Zhang Illustration

Weltweite Abhängigkeiten

Wird nun die Globalisierung zurückgedreht? Wird die Wertschöpfung wieder stärker regionalisiert? „Nachdem die Pandemie die globalen Lieferketten ­zerbrochen hat, kann sich kein Unternehmen mehr auf einen einzigen Lieferanten für ein bestimmtes Gut verlassen“, betont Robert Helminiak von der SOCMA. Allerdings hätten die Engpässe auch neue Gelegenheiten geschaffen. „Neue Produkte zu entwickeln, die dazu beitragen, unser Leben sicherer, ­gesünder und nachhaltiger zu gestalten, wird in unserer Branche weiterhin ganz oben auf der Agenda stehen“, prognostiziert der US-Experte.

Auf der anderen Seite des Globus hält Arthur Zhang die Idee einer regionalen Unabhängigkeit für „überbewertet“. Er glaubt: „Die Globalisierung wird weiterhin zunehmen, da gibt es kein Zurück. Und China wird Teil des Systems sein.“

In der Tat hat das Land infolge der Pandemie wirtschaftlich an Gewicht gewonnen – und auch auf dem politischen Parkett seinen Einfluss vergrößert: Die ­Europäische Union und China erzielten einen Durchbruch bei den Verhandlungen über ein Investitionsschutzabkommen. Und mit RCEP ist China Teil der größten Freihandelszone der Welt, die vom Himalaya bis Neuseeland reicht und 15 Staaten mit mehr als 2,2 Milliarden Einwohnern umfasst.

Wie dem auch sei: Die Robustheit von Lieferketten dürfte künftig mehr Aufmerksamkeit erfahren. Der Wert von Redundanzen und Reserven für ein Unternehmen ist in der Pandemie sichtbar geworden. Und wenn Arthur Zhang sich Gedanken über die weitere Entwicklung des chinesischen Vertriebs macht, wird ihm eines stets bewusst sein: „Das Virus hat uns gezeigt, dass sich von jetzt auf gleich alles ändern kann. Und dass wir darauf immer vorbereitet sein müssen.“

-7%

betrug 2020 der Rückgang der globalen CO₂-Emissionen.